Schön fett
Beobachtungen zur Barrierefreiheit von Unicode-Formatierung, Emojis und Hashtags in Social-Media-Beiträgen
Vor kurzem bin ich einer Beobachtung nachgegangen, die mir in letzter Zeit vor allem auf der Social-Media-Plattform LinkedIn, aber auch bei anderen Diensten auffällt: Immer mehr Beiträgen nutzen formatierte Texte, beispielsweise gefettete oder kursiv gestellte Begriffe, um visuelle Struktur zu erzeugen und die Aufmerksamkeit der Lesenden zu lenken. Soweit nichts Unbekanntes, nur: Die betreffenden Plattformen bieten die Formatierung von Texten beim Schreiben eigentlich gar nicht an. Woher kommen also diese dekorativen Merkmale?
Auch ich setze gerne Akzente in Texten, um wichtige Stellen hervorzuheben und Anker für eine bessere Leseorientierung zu bieten. Und nicht selten wünsche ich mir, in Social-Media-Beiträgen mit „echten“ Hervorhebungen und Listen hantieren zu können. Mit „echt“ meine ich hier: Es soll nicht nur an der Oberfläche nach Hervorhebung oder Liste aussehen — auch „unter der Haube“, also im Quelltext meiner Beiträge, muss die Formatierung mit den dafür vorgesehenen technischen Mitteln umgesetzt werden. Und genau da liegt das Problem: Die oben erwähnten Beitrags-Fundstücke sehen nur formatiert aus, sind es aber nicht wirklich.
Semantik
Ein Beispiel: Damit ein Wort im Internet fett dargestellt wird, muss es in der zugrunde liegenden HTML-Programmierung entsprechend markiert und gekennzeichnet sein. Man spricht von einer „Auszeichnung“ und würde dies in unserem Fall wohl mit dem HTML-Element <strong>
umsetzen. Damit wird dem Wort im Vergleich zu „normalem“ Text ein kleines bisschen zusätzliche Bedeutung („Semantik“) gegeben. Verarbeitende Software, zum Beispiel ein Browser, findet diese Auszeichnung im Quelltext und übersetzt sie in eine geeignete visuelle Darstellung: Für das Wort wird ein anderer Schriftschnitt verwendet, dessen Zeichen („Glyphen“) eine dickere Strichstärke aufweisen. Und voilà: Der Text erscheint fett.
Schein statt Sein
Keine Social-Media-Plattform, die ich nutze — Twitter, Facebook, LinkedIn, Xing, gelegentlich Instagram und neuerdings Mastodon — unterstützt die gezielte Auszeichnung von Textbeiträgen. Anders als im Microsoft Word oder im Wordpress-Editor fehlen die Menüpunkte zum Fett- und Kursivstellen, und auch Werkzeuge zum Platzieren von Links und Listen sucht man vergeblich. Nicht ohne Grund, nehme ich an, denn die Umsetzung von reichhaltigen Texten („Rich Text“) in korrektes HTML kann mitunter anspruchsvoll sein. Dabei soll das Veröffentlichen in Sozialen Medien ja ausdrücklich einfach, niederschwellig und möglichst fehlerunanfällig sein. Ich finde es deshalb nachvollziehbar, dass sich die Plattformen die unerwünschte Komplexität, die mit Textformatierung einhergehen kann, nicht antun wollen.
Und trotzdem haben sich findige Autorinnen und Autoren ein Schlupfloch gesucht, um am Ende doch noch Stil in ihre Beiträge zu bekommen.
[Unicode betritt die Bühne]
Unicode beschreibt die Technik, mit der Schrift elektronisch gespeichert wird. Der Unicode-Zeichensatz macht es möglich, dass in einer einzelnen Schriftart bis zu 145.000 Zeichen enthalten sein können — geringfügig mehr, als wir benötigen, um Texte mit unseren paar 26 lateinischen Buchstaben zu schreiben (Umlaute und Satzzeichen gibt's gratis). Tatsächlich bietet der Unicode-Setzkasten genug Fächer für so ziemlich alle Schriftzeichen, die jemals irgendwo im Einsatz waren, und auch für allerhand „Spaßzeichen“ ist dort Platz. Immer neue Emojis werden in den Standard aufgenommen, und es finden sich auch — jetzt kommt's — etliche Zeichenreihen, die ganz ähnlich aussehen wie die original-lateinischen Buchstaben, nur dass sie eben dicker und schräger sind. Sie sind überwiegend der Sammlung der „Mathematischen alphanumerischen Zeichen“ zuzuordnen, und wie die Beschreibung beim W3C bereits ausdrückt: Diese Zeichen sind "letter-like" — aber eben trotzdem keine "letters".
Optische Täuschung
Mit Unicode lassen sich also Texte verfassen, die scheinbar formatiert sind. Die Zeichen sind lesbar, weil sie „zufällig“ so aussehen, wie lateinische Buchstaben, aber in Wirklichkeit sind sie es nicht. Zwar bietet keine gängige Textverarbeitung eine bequeme Möglichkeit, solche Texte zu verfassen, aber eine schnelle Suche mit der Lieblingssuchmaschine, zum Beispiel nach den Begriffen "unicode formatter", liefert schnell eine lange Liste von Online-Diensten, die nichts anderes tun: Einkopierte Texte mit ein paar Klicks in „formatierte“ Kunstwerke verwandeln. Aus dem Beschreibungstext eines dieser Dienste:
By using Unicode symbols that look like formatted text, we are able to trick LinkedIn and the viewer into thinking what they are seeing is bold or italics, or underlined text.
Und genau diese optische Täuschung bringt ein gravierendes Problem mit sich: Nutzende, denen der Sehsinn nicht zur Informationsaufnahme dient, sind vom Verständnis ausgeschlossen. Betroffen sind beispielsweise Blinde oder Menschen mit einer Seh- oder anderen Behinderung, die Vorlesesoftware (Screenreader) oder andere assistive Technologien nutzen. Auch Suchmaschinen und sonstige Softwareanwendungen dürften bei der Auswertung solcher Inhalte vor kaum zu lösenden Schwierigkeiten stehen — inklusive die Social-Media-Plattformen selbst.
Zur Demonstration habe ich einen entsprechend „formatierten“ Beitrag auf LinkedIn veröffentlicht und anschließend untersucht, wieviel der Screenreader NVDA vom Beitrag erfassen kann. Im folgenden Video hört man die Sprachausgabe des Screenreaders. Man beachte vor allem, wie die formatierten Passagen zum Großteil überhaupt nicht ausgegeben werden. Es ist davon auszugehen, dass auch die Braille-Ausgabe des Screenreaders, also die Darstellung der Inhalte als tastbare Punktschrift, nicht ergiebiger wären.
Transkript: English (English)
Please don't do this!
Don't know about you, but lately I was wondering when and why it happened that you obviously always have to dump loads of super fancy (pseudo) text formatting over any post here on LinkedIn these days (not to forget the mandatory emoji in front of every wannabe paragraph and list item). Today I'm super excited to let you know that I could finally track down these 3 reasons you never wanted to be aware of:
1. Many authors are unsure whether their posts are a bit boring or meaningless so they simply add some visual clutter in order to attract at least a tiny bit of their bubble's attention.
2. Two line breaks without any frills afterwards are just plain sad.
3. Most definitely the authors never tried using a #screenreader and experiencing at first hand how exclusive their contents really are for people who can't SEE all that knickknack.
Luckily I can help with the latter: Here's a little screencast I made that will leave you with what #NVDA has to say about this very post. Happy listening!
#accessibility #a11y #inclusion
Die Nutzung von Unicode-Formatierung für Textbeiträge schafft also eine nicht zu überwindende Barriere für viele assistive Technologien und die Socal-Media-Plattformen selbst. Sie diskriminiert und schließt eine große Gruppe Nutzender aus. Unicode-Formatierung sollte nie und nirgends zum Einsatz kommen.
Emojis
Wenn wir schon dabei sind, dann auch gleich noch ein paar Worte zur Emojis in Social-Media-Beiträgen. Wer meine Beiträge auf Twitter, LinkedIn & Co kennt, weiß es vermutlich: Ich mag Emojis. Ich empfinde sie als bereichernde Möglichkeit, das geschriebene Wort durch emotionale Aspekte zu ergänzen, die manchmal hilfreich und notwendig sind, um die in Texten abwesende Mimik und Körpersprache wenigstens ansatzweise zu kompensieren, zusätzlichen Kontext zu schaffen und (Fehl-)Interpretationen vorzubeugen. In dieser Funktion, und mit entsprechendem Maß eingesetzt, stelle ich mir vor, dass Emojis auch für Nutzende assistiver Technologien eine wertvolle Ergänzung darstellen können — vorausgesetzt, sie werden entsprechend aussagekräftig übersetzt. (Ich äußere hier Vermutungen und hatte noch keine ausdrückliche und ausgiebige Konversation mit AT-Nutzenden zum Thema, freue mich aber sehr über Feedback, zum Beispiel in den Kommentaren am Ende des Beitrags.)
Anders als die oben beschriebenen, zur Formatierung genutzten Unicode-Zeichen haben Emojis standardisierte Textentsprechungen, die zum Beispiel von Screenreadern vorgetragen werden können. Vermutlich hängen Screenreader der raschen Evolution von Emojis immer einen Schritt hinterher, kennen nicht die allerneuesten Emojis, und manchmal mögen auch die Übersetzungen der Emoji-Bezeichnungen nicht besonders gelungen sein. Doch grundsätzlich sehe ich in der Verwendung keine Barriere, die im Zweifel nicht auch Nicht-AT-Nutzende treffen könnte (etwa ungebührliche Ablenkung oder Unterbrechung im Lesefluss).
Wie in vielen anderen Bereichen geht es wohl auch hier um den zweckmäßigen und überhaupt mäßigen Einsatz. Wenig sinnvoll ist sicher die Verwendung von Emojis am Anfang von Plattform-Benutzernamen, die in der Regel jedem Beitrag im Nachrichten-Feed der Social-Media-Plattformen voranstehen und von Screenreadern wieder und wieder vorgelesen werden. Oder, um es auf die Spitze zu treiben, wenn auch hier mit „lustigen“ Unicode-Zeichen hantiert wird, die von assistiven Technologien gar nicht erfasst werden können … siehe oben.
Hashtags
Weil sich explizit dazu in den Kommentaren meines LinkedIn-Experiments eine Konversation ergeben hat, schließlich noch meine Erkenntnisse und Einschätzung zu Hashtags — also jener Art von Meta-Verschlagwortung, die in vielen Social-Media-Plattformen üblich ist und oft auch als Filterbegriff für Beitragssuchen genutzt werden kann. Typischerweise werden Hashtags durch die Kombination einer Raute #
("hash") mit einem Schlagwort ("tag") gebildet und von den meisten Plattformen automatisch als Link umgesetzt. Autorinnen und Autoren müssen sich nicht manuell um die Verlinkung kümmern, die unterstützenden Plattformen erkennen und verarbeiten Hashtags und Internet-Adressen in der Regel selbständig.
Ähnlich wie Emojis werden Hashtags, wenn sie als Links umgesetzt sind, von Screenreadern erkannt und auf spezielle Weise angeboten. Im obigen Video etwa liest NVDA vor:
… tried using a link number screenreader and experiencing …
Die Tatsache, dass es sich um ein Link handelt, wird also explizit und automatisch angesagt, und auch die Raute wird im Englischen mit "number" wiedergebeben. In einem weiteren, flüchtigen Experiment mit Talkback auf Android wurden mir Hashtags in Tweets wahlweise als „Hashtag [Begriff]“ oder „Raute [Begriff]“ vorgelesen, wobei Talkback immer dann auf „Raute“ zurückfiel, wenn ein Umlaut im Schlagwort enthalten war (mutmaßlich eine Schwäche in der Hashtag-Erkennung). Statt der ausdrücklichen Ansage, dass es sich bei den Hashtags um Links handelt, spielt Talkback grundsätzlich vor allen Links ein kurzes Ploppen ein.
Werden Hashtag-Begriffe aus mehreren Einzelwörtern zusammengesetzt, dann sollten stets Binnenmajuskel, also Großbuchstaben zu Beginn jedes Teilworts genutzt werden. In Programmiersprachen wird diese Schreibweise häufig als CamelCase bezeichnet, weil sie an die Höcker eines Kamels erinnern soll. Screenreader können aus dieser Schreibweise die Worttrennung ableiten und Aussprache verbessern.
Der Aussage, Hashtags (und auch Emojis) würden den Lesefluss in Screenreadern empfindlich stören, und Hashtags sollten deshalb generell ans Ende eines Beitrags gestellt werden, kann ich mich in dieser pauschalen Form nicht anschließen. Für mein Verständnis sind sowohl die kontextuelle Integration von Hashtags in einen Beitrag, als auch die Auslagerung ans Ende probate Mittel. Ich sehe mehrere Zusammenhänge ineinandergreifen:
- Die „Verhashtaggung“ an Ort und Stelle unmittelbar dort, wo der Begriff im Erzählfluss vorkommt, schafft zusätzlichen Kontext und Authentizität. Hashtags am Ende eines Beitrags wirken zusammenhanglos und nicht selten wie Spam.
- Die unterstellte Unterbrechung des Leseflusses durch die Wiedergabe eines Hashtags unterscheidet sich kaum von der Wiedergabe gewöhnlicher Links, was als Konzept mehr als gängig ist. Sowohl Links, als auch Hashtags sollten trotzdem natürlich grundsätzlich maßvoll eingesetzt werden.
- Die Verlagerung aller Hashtags ans Ende eines Beitrags zwingt Screenreader-Nutzende, den erst vollständig zu konsumieren, bevor die Möglichkeit wahrgenommen werden kann, den Hashtag-Links zu folgen. Innerhalb von Beiträgen existieren, dank der weitgehenden Strukturfreiheit auf den betreffenden Social-Media-Plattformen, kaum Möglichkeiten, Beitragsteile gezielt zu überspringen.
- Viele Plattformen, allen voran Twitter, operieren mit Längenbeschränkungen für die Beiträge. Jedes (gesparte) Zeichen ist wertvoll. Die kontextuelle Integration von Hashtags kann die Einsparung von Zeichen unterstützen. Insofern ist denkbar, dass die bestmögliche Positionierung von Hashtags auch teilweise von der jeweiligen „Plattformkultur“ beeinflusst wird.
- Die Auslagerung von Hashtags ans Ende eines Beitrags bietet sich vor allem für solche Hashtags an, die nicht sinnvoll im Beitrag unterzubringen sind oder nur aus Reichweiten- und Vermarktungsgründen eingebracht werden. Ich unterstelle, dass an diesen Hashtags zumindest oberflächlich ohnehin das geringste Interesse besteht.
Eine gestern spontan angesetzte Umfrage auf Twitter zum Thema scheint meine Einschätzung zu stützen. Da die Zukunft von Twitter aus gegebenem Anlass etwas in den Sternen steht und wir in diesem Blog aus Datenschutzgründen ohnehin keine Fremdmedien einbetten, gebe ich die Umfrage hier als Kopie wieder.
Die (absolute) Mehrheit der abgegebenen Stimmen hält die Anbringung von Hashtags sowohl mitten im Beitragstext, als auch an seinem Ende für akzeptabel und spricht sich dafür aus, je nachdem zweckmäßig zu entscheiden. Knapp ein Drittel der Befragten spricht sich für Hashtags am Ende von Beiträgen aus. Jeweils nur kleine Gruppen würden Hashtags entweder ausschließlich inmitten der Beiträge oder überhaupt nicht sehen wollen. Ich ziehe daraus zwei Schlüsse:
- Die Platzierung von Hashtags inmitten von Beiträgen ist nicht pauschal problematisch und kommt durchaus in Frage.
- Die inklusivere Methode ist die Platzierung am Ende von Beiträgen, weil sie von insgesamt fast 87% der Befragten gutgeheißen wird.
Am Rande: Es läuft noch 6 Tage lang eine inhaltsgleiche Umfrage auf LinkedIn. Dort wurden bisher nur 6 Stimmen abgegeben, und als Autor sehe ich im Unterschied zu Twitter, wer eine Stimme abgegeben hat und wie gestimmt wurde. Im Augenblick liegen die Antworten 1 und 3 gleichauf, wobei nur eine der Personen, die abgestimmt haben, blind und Screenreader-Nutzer im Alltag ist. Er stimmte für Antwort 3, also die freie Positionierung von Hashtags. Die übrigen Teilnehmenden haben durchgehend große Barrierefreiheitsexpertise und ausgeprägte Screenreader-Kenntnisse.
Fazit
In Kürze nochmal die wichtigsten Erkenntnisse:
- Unicode-Formatierung ist böse und man lässt besser die Finger davon!
- Emojis in Maßen sind okay, potenziell barrierefrei und können die Kommunikation unterstützen
- Hashtags in Maßen sind auch okay, dürfen überall im Beitrag sitzen, sind am Ende aber potenziell inklusiver
Im Übrigen gibt es mehrere Initiativen, die sich mit dem barrierefreien Veröffentlichen in Sozialen Medien befassen und dazu viele gute Tipps auf Lager haben, wie zum Beispiel #barrierefreiPosten. Ich bin selbst beileibe kein Social-Media-Spezialist und gebe hier allenfalls auszugsweise meine spärlichen, persönlichen Erfahrungen wieder. Sollte ich irgendwo fachlich falsch liegen, sollten meine Informationen veraltet sein oder wenn ihr wertvolle Ergänzungen habt, hinterlasst doch gerne unten einen Kommentar.