Ein Quantum mehr — Teil 1

Veröffentlicht als Einblick
von Joschi Kuphalam

„Därfs a weng mehr saa?“, haben wir uns als gemeine Franken gefragt, als wir zum Jahreswechsel 2020 unsere Gehälter auf links gekrempelt haben. Nicht einfach so, natürlich. Da lagen eineinhalb Jahre voller Fragen, Recherchen, Ideen, Diskussionen, Vorschläge, Rückschläge und Entscheidungen hinter uns. Herausgekommen ist etwas, das wir unser „Quantum-System“ nennen — der hausgemachte Versuch, ein Gehaltsmodell für unser Team zu finden, das sich möglichst gerecht und fair anfühlt und bei dem wir als Menschen im Mittelpunkt stehen. Nach 18 Monaten Quantum haben wir unser System nun erstmals zur Nachuntersuchung gebeten — und können ausführlich berichten.

Was war unser Ausgangspunkt? Warum haben wir unsere Gehälter so grundlegend hinterfragt? Wie ist daraus das Quantum-System entstanden? In diesem ersten Teil beschreibe ich den Hergang und die Hintergründe unseres Selbstversuchs. Im zweiten Teil dreht sich dann alles darum, wie unser Quantum-System genau funktioniert und wie wir heute unsere Gehälter bestimmen.

Traditionell anders

Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wann und womit bestimmte Traditionen begonnen haben, die für uns über viele Jahre so normal und prägend waren. Einige davon gehen bis in unsere Anfänge zurück, 15 oder 20 Jahre vielleicht, bis zum Kern dessen, wie wir uns seinerzeit ein lebenswertes Arbeitsumfeld vorgestellt haben. Zum Beispiel, dass wir alle — ausnahmslos und nur von unseren Auszubildenden abgesehen — dasselbe Gehalt verdienten. Nicht in absoluten Zahlen, denn es gab schon immer individuelle Bedürfnisse und Ausgestaltungswünsche beim persönlichen Arbeitspensum oder anderen Rahmenbedingungen. Aber zumindest Pi mal Daumen und im Vergleich zueinander. Insofern war auch die Höhe unserer Gehälter zu keinem Zeitpunkt ein Geheimnis: Im Zweifel konnte man sich anhand der eigenen Zahlen zumindest grob errechnen, was die Kolleginnen und Kollegen verdienten … Und dann war da beispielsweise noch die eher ungewöhnliche, aber eingefahrene Praxis, dass unsere Arbeitsverträge grundsätzlich Netto- statt Bruttolöhne festlegten.

So naiv unsere Ansätze vielleicht waren: Unser (manchmal zugegeben nicht zu Ende gedachtes) Motiv war immer, für möglichst viel „Gerechtigkeit“ und „Fairness“ zu sorgen. Alle im Team als gleichwertig und gleich wichtig zu behandeln und Konkurrenzgebaren von Grund auf zu vermeiden. Einen sicheren Ort zu schaffen, an dem alle ohne Angst miteinander und nicht gegeneinander arbeiten können. Dass sich alle auf das verlassen können, was jeden Monat auf ihrem Konto ankommt, und nicht darum kämpfen müssen. Und das alles nicht aus einer bestimmten Ideologie heraus, sondern weil es sich gut und richtig anfühlte — und weil niemand vorbeikam, der uns sagte, wie wir es sonst tun sollten; also haben wir einfach getan, was uns in den Sinn kam.

Auch nach außen hin hielten wir es nicht anders. Schon immer hatten wir nur genau einen Stundensatz, für alle im Team und für jede Art von Arbeit. Wir haben diese Praxis im Laufe der Jahre selbst mehrfach hinterfragt — nicht nur, weil wir immer wieder Diskussionen mit unserer Kundschaft dazu führen mussten. Warum kostet das Umbenennen von Bildern genauso viel wie Datenbank-Programmierung? Kann die Arbeit überhaupt etwas taugen, wenn der Chef nur € 74 kostet (das ist zugegeben schon ein Weilchen her …)? Trotzdem kamen wir wieder und wieder an den Ausgang zurück und hielten überzeugt am Einheitsstundensatz fest. Niemand sollte „wertvoller“ sein als die anderen im Team.

Wir haben lange durchgehalten. Bis 2018.

Selbstblockade

Im Sommer 2018 saß Wenzel vor uns. Wenzel war echt gut. Und er hätte vermutlich richtig gut ins Team gepasst. Er bewarb sich auf die Stelle als Backend-Entwickler, die wir damals ausgeschrieben hatten, und wir hätten jemanden wie ihn dringend gebraucht. Wäre da nur nicht seine Gehaltsvorstellung gewesen. Nicht, dass wir die grundsätzlich unanständig gefunden hätten; im Gegenteil, er wäre sei Wunschgehalt bestimmt wert gewesen. Ja, okay — er wollte richtig viel mehr als unser Standard-Einheitsgehalt. Und er war auch nicht so wirklich interessiert an unserem hippiesquen „Wir sind alle gleich“-Ringelpiez. Aber unser Hauptproblem war ein anderes — oder genau genommen, es war siebenmal so groß: Denn wollten wir uns nicht selbst untreu werden, dann hätten wir jeden Euro, den wir Wenzel über unseren Standard hinaus gezahlt hätten, auch gleich noch auf alle anderen Gehälter aufstocken müssen. Und so sehr wir Wenzel und uns selbst auch mochten, das lag leider weit außerhalb unserer Reichweite. Es wurde also nichts aus Wenzel und uns.

(Er hieß im Übrigen auch nicht Wenzel, aber fast. Viele Grüße, dein Datenschutz)

Etwa zur selben Zeit kam noch eine andere Spannung an die Oberfläche, und das nicht zum ersten Mal: Unsere Einheitsgehälter ließen niemandem die Möglichkeit, die eigene Versorgung gezielt zu optimieren — etwa durch bewusst gesteigertes Engagement, mehr Verantwortung im Team oder ähnliches. Außergewöhnlicher Fleiß „lohnte“ sich einfach nicht. Unsere in guter Absicht als Netto festgesetzten Gehälter machten es zusätzlich steuerlich komplett unattraktiv, familiäre Veränderungen einzubringen — im Zweifel ging das allenfalls zu Lasten des Firmenkontos, nicht zu Gunsten der Teammitglieder.

Für unser altes Gehaltsmodell war die Dämmerung angebrochen. Es hatte uns lange gut gedient, aber zwischenzeitlich blockierte es uns mehr, als es nutzte. Was der ersten Teamgeneration noch viele Sorgen abgenommen hatte, war längst zur Entwicklungsbremse geworden. Und so wagte ich es, in einer Session unseres internen Barcamps im November 2018 die heilige Kuh an den Hörnern zu packen: „Könnt ihr euch vorstellen, unsere Gehälter völlig neu, nicht mehr einheitlich zu gestalten?“ Entgegen meiner Befürchtungen waren die Reaktionen fast ausschließlich positiv: Die Ehrgeizigen im Team mussten nicht lange überzeugt werden, auch die übrigen waren schnell im Boot, und selbst der Azubi bekundete: „Ich habe eh nie verstanden, wie das hier funktioniert.“ Immerhin eine skeptische Stimme gab zu Protokoll, dass unsere "One Size Fits All"-Philosophie seinerzeit das ausschlaggebende Argument für den Eintritt in unser Team war. Dennoch: Die Segel waren gesetzt.

Mindmap mit dem Knoten „tollwerk xSystem“ im Zentrum, darum die nummerierten Unterknoten „1. Einschätzungssystem“, „2. Leitbild“, „3. Zielsystem“, „4. Gehaltssystem“ und „5. Bonussystem“. Weitere Unterpunkte und Querverbindungen skizzieren frühe Gedanken zu den unterschiedlichen Systemen, die wir parallel in Betracht zogen.
System aus Systemen

Schon bei frühen Überlegungen wurde klar, dass wir über viele ineinanderspielende Themen nachdenken müssen.

Quelle: Joschi Kuphal / tollwerk GmbH, , Alle Rechte vorbehalten

Was ist fair?

Welche Kriterien muss ein Vergütungssystem erfüllen, das wir als fair und gerecht empfinden, das keinen Anlass zu Konkurrenz im Team gibt (auch neu Hinzukommenden nicht), das gleichzeitig persönlichen Einsatz honoriert und individuelle Entwicklungschancen bietet? Die nächsten Monate waren für mich geprägt von umfangreichen Recherchen und Titeln wie „Leistungsorientierte Vergütung — Anreizsysteme wirkungsvoll gestalten“ — und so lehrreich die ganze Lektüre mitunter war, so häufig fand ich mich immer wieder auf eine bestimmte Erkenntnis zurückgeworfen: Es gibt nicht den einen Ansatz, der alle gleichermaßen glücklich macht und sowohl der Organisation, als auch dem kompletten Team hundertprozentig taugt. Überhaupt ist Gerechtigkeit eine sehr subjektive Wahrnehmung, und vieles lässt sich nicht sachlich in Bezug zueinander setzen. Welche Bedeutung haben Ausbildung, Berufserfahrung und Betriebszugehörigkeit verglichen mit Teamverantwortung, Einsatz- und Risikobereitschaft? Und wie sollen sich diese Aspekte auf einzelne Gehälter auswirken, wenn überhaupt?

Bei allem, was zunächst unklar war — in bestimmten Punkten gab's keine Fragen:

  • Unsere Gehälter durften weder von gewillkürten Personalentscheidungen, noch von (mehr oder weniger gekonnter) Selbstdarstellung und persönlichem Verhandlungsgeschick abhängen. Stattdessen wünschten wir uns eine individuelle Betrachtung aller Rollen und Personen, mit einheitlichen Maß, aber immer auch mit dem Gesamtgefüge im Blick. Eine Aufgabe, der man sich bei einem kleinen Team durchaus stellen kann …
  • Traumtänze bringen uns nicht weiter. Wir können uns nur leisten, was wir wirklich leisten können.
  • Niemand durfte nach einer Neuorganisation der Gehälter schlechter gestellt sein als zuvor. Sonst hätte der ganze Anlauf von vornherein keine Akzeptanz.

Beim Spinnen unserer Gedanken kristallisierten sich schnell ein paar Aspekte heraus, die für unser neues Gehaltsmodell besonders wichtig schienen.

Transparenz und Nachvollziehbarkeit

Für die meisten Beschäftigten unserer Branche kommen die Gehälter auf Basis gewillkürter Beträge zustande, auf die sie sich mit ihren Arbeitgebenden irgendwie verständigen können. Ich unterstelle, dass die genaue Höhe oft mehr von externen Faktoren, Glück und individuellem Verhandlungsgeschick bestimmt werden, als dass sie wirklich dem Wert der geleisteten Arbeit entsprechen oder diesen realitätsnah definieren können — in alle Richtungen. Die Zusammenhänge mögen sich den Parteien zum Teil erschließen, sind aber ebenso oft einfach nur frustrierend.

Die freihändige Festlegung von Gehältern begünstigt für mein Verständnis ein verstärktes oder gar verzerrtes Ungerechtigkeitsempfinden und damit potenzielle Rivalität im Team und darüber hinaus. Natürlich sind nicht alle Rollen im Unternehmen mit demselben Maß an Verantwortung für das Gesamtwohl verbunden, was durchaus Unterschiede in der Entlohnung rechtfertigen kann. Gleichzeitig kann die oberflächliche Messbarkeit einer Leistung dazu verleiten, den nicht unmittelbar wertschöpfenden Rollen weniger Wert beizumessen. Welchen Anteil am Unternehmenserfolg haben diejenigen, die sich um Ausbildung, Buchhaltung, Innovation oder einfach nur das Mittagessen kümmern? Solche Beiträge sind schwer bis unmöglich zu messen, und doch sind sie so wichtig für die Kultur, den Zusammenhalt und Fortschritt in einer Organisation.

Wo sportlich-kollegialer Wettstreit die Produktivität steigert, da ist ernstes Gerangel um persönliche Vorteile unbedingt zu vermeiden. Gegenseitige Wertschätzung entsteht nur dann, wenn die Rolle und Bedeutung aller Teammitglieder wirklich gesehen und verstanden wird. Gehälter bleiben auch bei voller Transparenz ein sensibles Thema, und kaum etwas schafft mehr Misstrauen als Absprachen hinter verschlossenen Türen. Ein wesentlicher Schlüssel zur gegenseitigen Akzeptanz im Team sind deshalb ein gemeinsames Rollenverständnis und die Nachvollziehbarkeit des Systems, nach dem sich Gehälter bestimmen. Keine Willkür, keine Selbstdarstellung, sondern faire, verständliche und gleiche Regeln für alle.

Ganzer Mensch

Eine Rolle entfaltet ihre Bedeutung fürs Unternehmen erst durch die Besetzung mit einer bestimmten Person und deren ganz besonderen Eigenschaften. Gleichzeitig kann die Person ihre Stärken nur genau so gut zur Geltung bringen, wie es die ihr zugedachte Rolle zulässt und fördert. Ein bisschen also wie ein Mensch und seine Kleidung: Rolle und Person bringen unabhängig voneinander Grundeigenschaften mit, die erst im Wechselspiel miteinander richtig wirken. Weil wir keine Roboter sind und unsere Persönlichkeiten nicht an der Garderobe ablegen, ist unsere individuelle Performance — und damit unser Wert fürs Team und Unternehmen — also sowohl von Eigenschaften abhängig, die mit uns einzeln überhaupt nichts zu tun haben (Beschaffenheit der Rollen), als auch komplett rollenunabhängig sind (persönliche Beschaffenheit). Zu ersterem zählt die Definition unseres Arbeitsfelds, zu zweiterem unser Charakter und der persönliche Hintergrund.

Um sich dem Anspruch von „Fairness“ beim Gehalt anzunähern, ist ein ganzheitlicher Einbezug dieses Rolle-Person-Zusammenspiels notwendig. Alter, Werdegang, sozialer Kontext und Bezug zur Organisation sind genauso wichtig wie die Erwartung, Verantwortung und Belastung, die mit einer spezifischen Rolle verbunden sind. Das Sichtbarmachen aller Facetten ist ein weiterer wichtiger Schlüssel, um Verschiedenheiten im Team begrüßen, verstehen und akzeptieren zu können. Es geht um „zufrieden mit meiner Situation“, nicht um „zufrieden im Vergleich mit anderen“.

Karriere

In unserer Natur liegt der spielerische Drang, sich fortwährend weiterzuentwickeln und mit dem Umfeld zu messen. Eine großartige Sache, wenn man die Innovationskraft dahinter erkennt und zu nutzen lernt, die im Bestfall das ganze Team und die Organisation ergreift. Die Herausforderung liegt darin, den Moment nicht zu verpassen, in dem eine Rolle verändert werden möchte, und die Veränderung dann angemessen zu unterstützen, sodass echter Fortschritt stattfinden kann.

Die Annahme, dass Karriere eine Leiter ist, die immerfort nach oben führt, halte ich für falsch und gefährlich. Diese gelernte Erwartungshaltung entspricht nicht der Realität und baut einen Druck auf, der ein Teamgefüge oder gar unsere Gesundheit beschädigen kann. Im Beruf gibt es Aufwärtsphasen, keine Frage. Aber genauso gibt es Momente, in denen das Leben die Prioritäten in andere Bereiche verschiebt, etwa hin zur Familie, zur Gesundheit, oder weil sich Interessen und Bedürfnisse verändern. Dabei handelt es sich nicht um Rückschritte — ganz im Gegenteil — und so muss es möglich sein, dass sich unsere Rollen mit uns verändern, in alle Richtungen.

Oft sind wir so sehr darauf fixiert, in vollen Zügen zu schöpfen, das wir Gefahr laufen, das Maß aus den Augen zu verlieren — dabei war die Endlichkeit aller Ressourcen nie deutlicher als in unserer Zeit. Wer sich ohne Blick aufs Ganze nur mit dem persönlichen Vorteil beschäftigt, betreibt Raubbau am eigenen Fundament. Ein Gehaltssystem, das Einzelne begünstigt und das Gemeinwohl vernachlässigt, incentiviert destruktives Verhalten. Es geht darum, Maß zu nehmen und zu halten — insgesamt, für sich selbst und im Miteinander.

Einsatz, der sich lohnt

Rollen- und personenbezogene Aspekte spannen das Spielfeld für ein Beschäftigungsverhältnis auf. Die Dynamiken sind langfristig und entziehen sich weitgehend dem direkten Einfluss: Während die Rollen einer Organisation Teil eines komplexen Gefüges sind, dessen Evolution Zeit und gemeinschaftliche Überlegung braucht, entwickelt sich der persönliche Kontext unabhängig und fast automatisch weiter, aber auch nur vergleichsweise träge.

Viel unmittelbarer wirkt sich dagegen aktiver Einsatz innerhalb dieses Spielfelds aus — und der liegt per Definition in den Händen der Einzelnen. Die Möglichkeiten, sich über die Mindestanforderungen einer Rolle hinaus zu engagieren, beschränken sich nicht nur auf „nach außen“ gerichtete Anstrengungen im Sinne der unmittelbaren Wertschöpfung. Auch im Inneren gibt es unzählige Anknüpfungspunkte, an denen alle konstruktiv zum Erfolg einer Gemeinschaft beitragen können.

Ziel muss ein Klima sein, in dem alle zu jeder Zeit eigenständig bestimmen können, ob, in welchem Maß und auf welche Weise sie sich über das erwartbare Minimum hinaus für die Gemeinschaft und Organisation einsetzen möchten. Auswirkungen auf das Gehalt können dabei einen Teil der verdienten Wertschätzung ausmachen — auch wenn extrinsische Motivation durch finanzielle Anreize bekanntermaßen wenig nachhaltig ist und nicht die einzige Form von Anerkennung bleiben darf. Wichtig ist, dass alle im Team jederzeit über zuverlässige Möglichkeiten verfügen, ihre eigene Situation wirksam zu beeinflussen. Nicht-Inanspruchnahme ist kein Zeichen für mangelnden Gemeinschaftssinn und darf keiner Rechtfertigung bedürfen.

Systeme, Systeme …

Durch die intensive Beschäftigung mit unterschiedlichen Vergütungsmodellen, Führungs- und anderen Organisationsmethoden hat sich irgendwann ein Bild für unser neues Gehaltsmodell zusammengesetzt. Am Ende war es, wie so oft, eine aus verschiedenen Richtungen inspirierte Eigenkreation, für die wir uns entschieden haben und mit der wir in die Umsetzung gegangen sind. Doch bevor wir am Ende des Artikels eine grobe Zusammenfassung liefern, möchte ich zwei Nebenschauplätze erwähnen, die uns auf dem Weg dorthin beschäftigt haben.

Notizen auf Post-It-Zetteln zu den Themen "Werte-Fundament" und "Artefakte" an einem Fenster, dahinter der Blick über den See Þingvallavatn in Island
Wer sind wir und was ist uns wichtig?

Die Gedankenreise begann 2018 in Island mit einem internen Workshop zu unseren Wünschen und Werten

Quelle: Joschi Kuphal / tollwerk GmbH, , Alle Rechte vorbehalten

Team- und Selbsteinschätzung

In unserer Firmengeschichte hat es nie Mitarbeitergespräche gegeben. Bis 2010 war unser Team nur durch Auszubildende gewachsen, und ich selbst hatte immer nur selbständig gearbeitet. So hat wohl niemand dieses klassische Führungsinstrument vermisst. Erst später sind Mitglieder zum Team gestoßen, die in früheren Rollen Gespräche mit ihren Vorgesetzten geführt hatten — insgesamt wohl eher eine Erfahrung, der sie nicht wirklich nachtrauerten.

Schon vor unserer Suche nach neuen Gehältern hatten wir uns über verschiedene Zielsetzungsmethoden informiert, insbesondere zu Objectives and Key Results (OKR), was wir dann allerdings erst später weiterverfolgen wollten. Mit OKR im Hinterkopf und beeindruckt vom Lernentwicklungsgespräch, das meine Tochter zu der Zeit mit ihrer Grundschullehrerin führte, entwickelten wir Anfang 2018 immerhin erstmals Interesse an einem umfassenden Abgleich zwischen Eigen- und Fremdbildern im Team.

Aus diesem Bedarf heraus entwarf ich einen umfangreichen, zweiteiligen Fragebogen: Die Teameinschätzung, die alle Kolleginnen und Kollegen sowohl für sich, als auch für alle anderen durcharbeiteten, drehte sich 51 Fragen lang um die Wahrnehmung von Stärken und Schwächen in den Bereichen Kommunikation & Kollaboration, Teamverhalten, unternehmerisches Handeln, Weiterentwicklung, Arbeitsweise und Arbeitsergebnisse. Ziel der Selbsteinschätzung, die alle zusätzlich für sich selbst bearbeiteten, war die Erfassung der persönlichen Prioritäten, Wünsche und Entwicklungspotenziale.

Am Ende des aufwendigen Prozesses stand ein Auswertungsgespräch mit jedem Teammitglied, in dem die eigene Einschätzung der gemittelten Einschätzung des übrigen Teams sowie explizit meiner Einschätzung gegenübergestellt wurde (zum damaligen Zeitpunkt fanden wir, dass ich als „Chef“ klar und ausdrücklich Stellung beziehen sollte — was ich mit meinem inzwischen gewonnenen Rollenverständnis vermutlich anders bewerten würde). Grobe Wahrnehmungsunterschiede, von denen es tatsächlich kaum welche gab, wurden in einer sehr konstruktiven, wertschätzenden Form thematisiert und besprochen. Hier hat übrigens ein wichtiges Prinzip seinen Ursprung, das sich auch in unseren Quantum-Workshops wiederfindet: Alle Gespräche fanden immer unter 6 Augen statt, um Missverständnissen vorzubeugen und die Sachlichkeit zu unterstützen.

Unsere große Einschätzungsrunde hatte — mit Ansage — keine Auswirkungen auf unsere Gehälter oder andere Arbeitsbedingungen. Viel wichtiger waren uns die allgemeinen Erkenntnisse, die wir aus der Übung ziehen konnten. Das Feedback im Team war extrem positiv: Trotz des hohen Aufwands empfanden alle die Beschäftigung mit den Fragen, mit sich selbst und den übrigen Teammitgliedern als äußerst lohnenswert. In vielerlei Hinsicht hat die Teamreflexion den Grundstein für unsere anhaltende Transformation zur kollegialen Organisation gelegt und die Entstehung unseres Quantum-Systems maßgeblich beeinflusst. Etwa die Entscheidung, unsere Gehälter nicht von der Erreichung zuvor gesteckter Ziele abhängig zu machen, leitet sich direkt aus diesen Erfahrungen ab.

Ein Leitbild muss her!

Überhaupt hat mich die Beschäftigung mit uns selbst, mit unseren persönlichen Stärken, Schwächen und Prioritäten einmal mehr daran erinnert, dass wir auch als Organisation klar Stellung beziehen und unsere Ziele und Werte artikulieren sollten. Schon länger hatten wir uns intuitiv in eine bestimmte Richtung orientiert, aber der letzte Schritt, das Formulieren eines griffigen Leitbilds, mochte uns (und besonders mir) irgendwie nicht gelingen. So viele Entscheidungen, große wie kleine, und unsere gesamte Kommunikation könnten von einer klar umrissenen Vision profitieren!

Es war an der Zeit, das Thema offensiv anzugehen. Einen Anfang machten wir, als wir uns im Rahmen unseres Island-Retreats im November 2018, nur mit einfachsten Mitteln ausgestattet, spontan einen Corporate Culture Canvas im Internet suchten, auf Post-Its adaptierten und mit viel Ambition auf die Suche nach Worten für unsere Werte gingen.

Gruppenpanorama in der tollwerkstatt. Kai, Bertram, Judith, Annika, Jeff, Nina und Klaus sitzen / stehen im Kreis vor der Tafel. Natalie steht und spricht zur Runde, hinter ihr Post-Its und Texte an der Tafel. Fotografiert von Joschi.
Werte & Ziele

Natalie Golob erläutert uns den Wertekompass und unterstützt beim Finden und Artikulieren unserer Ziele.

Quelle: Joschi Kuphal / tollwerk GmbH, , Alle Rechte vorbehalten

Einen zweiten wichtigen Schritt gingen wir zusammen mit Natalie Golob, einer langjährigen Freundin, Wegbegleiterin und berufsmäßigen Organisationsentwicklerin. Im Mai 2019 führte sie uns höchst professionell durch einen Leitbild-Workshop, der nicht nur die Erkenntnis brachte, dass auch diejenigen, die nicht mit in Island waren, die Wertevorstellungen der Übrigen teilten, sondern der auch neue Klarheit in der Formulierung unserer Gedanken brachte.

Viele der Workshop-Ergebnisse sind bereits in unser Manifest eingeflossen, das wir zum Relaunch dieser Website im März 2020 veröffentlicht haben. Endlich ans Ziel gelangt sind wir aber erst mit unserem „responsiven Leitmotiv“, das just in diesem Juni entstanden ist und über das wir demnächst berichten werden.

Summa summarum

Nach intensiver Vorbereitung haben wir zum Jahreswechsel 2020 auf unser Quantum-System umgestellt — und bereuen es bis dato nicht. Drei Bausteine bestimmen heute unsere Gehälter:

  • Ein Sockelbetrag, geknüpft an den sich regelmäßig ändernden, gesetzlichen Mindestlohn und unter Berücksichtigung des persönlichen Arbeitspensums, bildet die individuelle Berechnungsbasis.
  • Multipliziert mit dem persönlichen Quantum — einem Faktor zwischen 1,4 und 3,0 — ergibt sich das Monatsgehalt für jedes Teammitglied. Das Quantum berücksichtigt rollen- und personenbezogene Aspekte sowie den Einsatz fürs Team und unser Projektgeschäft.
  • Einen Teil unserer Überschüsse verteilen wir am Jahresende im Team und nutzen dazu ebenfalls das Quantum als Schlüssel.
Mindmap aus einem frühen Konzeptstadium mit dem Knoten „Gehalt“ im Zentrum, davon ausgehend die Äste „Sockel“, „Quantum“ und „Erfolg“. Untergeordnete Knoten detaillieren die Aspekte weiter. Insbesondere das Quantum gliedert sich weiter auf in „Arbeitsplatz“, „Persönliches“, „Projektarbeit“ und „Verhalten“.
Mischung macht's

Ein fester Sockelbetrag, das individuelle Quantum und ein flexibler Anteil am Gemeinschaftserfolg sind die Bausteine unserer neuen Gehälter.

Quelle: Joschi Kuphal / tollwerk GmbH, , Alle Rechte vorbehalten

Im nächsten Teil dieser Reihe gehen wir auf die drei Bausteine ein und beschreiben im Detail, wie das persönliche Quantum zustande kommt. Wir berichten außerdem von den Quantum-Workshops, die wir zur Team-Neukalibrierung seit April diesen Jahres durchgeführt haben.