Subject Matter Expertise

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von Joschi Kuphalam

Am Thema (persönlicher) Zertifizierungen können sich ja die Geister scheiden. Bis ich im Februar 2020 auf der Zero-Project-Konferenz in Wien vergleichsweise spontan zur Prüfung zum “Web Accessibility Specialist (WAS)” angetreten bin, hielt ich ehrlich gesagt nicht besonders viel von solchen Wimpeln. Ich hatte zwar schon vorher verschiedene TYPO3-Zertifizierungen erlangt, aber die Gründe waren immer sehr pragmatisch und unemotional. Weder hatte ich diese Erfolge öffentlich zur Schau gestellt, noch kann ich behaupten, dass sie mich persönlich nennenswert weitergebracht hätten.

Mit dem WAS war es anders. Da hatte mich der sportliche Ehrgeiz gepackt — zwischen meiner Bauchentscheidung und der Prüfung lagen gerade einmal 3 Wochen. Ich erzählte niemandem von meinem Vorhaben, und hätte ich den Test nicht geschafft, hätte ich alles für mich behalten. Schon und gerade die kurze, sehr intensive Vorbereitungsphase fand ich äußerst bereichernd, brachte sie mich doch zwangsläufig dazu, mich mit Themen zu befassen, die völlig jenseits meines täglichen Tellerrands lagen.

Technische Expertise

Ein Web Accessibility Specialist kann nach Definition der International Association of Accessibility Professionals (IAAP) kein Anfänger sein. Vielmehr setzt die Zertifizierung wenigstens 3-5 Jahre ersthändige, also praktische Erfahrung in der technischen Umsetzung barrierefreier Webanwendungen voraus. Belastbares HTML-, CSS- und JavaScript-Know-How sowie der kundige Umgang mit unterschiedlichen Screenreadern auf unterschiedlichen Plattformen können da ebenso erwartet werden, wie ein gewisser Einblick in rechtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge. In meinen Augen erreicht das Zertifikat sein Ziel durchaus: Alle WASs, die ich kenne, sind durchweg fähige und zuverlässige Sachverständige, die dem formulierten Anspruch der IAAP sicherlich gerecht werden.

Klar, es gibt auch Kritik am WAS (und den übrigen Zertifikaten der IAAP). Mal steht die Art der Prüfung (Multiple Choice unter Zeitdruck), mal der Inhalt der Prüfungsfragen unter Beschuss (warum findet sich Stand heute die BITV nicht angemessen im deutschsprachigen Curriculum wieder?). Früher oder später werden auch ganz selbstverständlich die Prüfungskosten in den Ring geworfen — ob die denn nicht selbst schon eine Barriere wären und in welchem Verhältnis sie eigentlich zum Nutzen stünden? Persönlich kann ich dazu nur sagen: Im Vergleich zu manch anderer Zertifizierung stehen WAS & Co. noch günstig da, und insgesamt klingt mir das sehr nach einer Frage der „Generation Kostenlos“. Dass man die IAAP-Zertifikate nicht einfach nur mit Geld verlängern kann, sondern dazu vor allem “Continuing Accessibility Education Credits” (CAEC) braucht, die man sowohl durch persönliche Weiterbildung, als auch durch Community-Arbeit (also Weiterbildung anderer) sammeln kann, hat meine Sympathie in jedem Fall.

Von nichts kommt nichts

Tatsächlich bin ich ganz froh, dass Zertifikate wie der WAS eben genau nicht einfach so verteilt werden, denn das würde eines der dringlichsten Probleme unserer Branche, heute und vor allem in den kommenden Jahren, genau überhaupt nicht lösen: Nämlich die Tatsache, dass in Anbetracht des anrollenden European Accessibility Acts (EAA) immer mehr Quacksalber auf den Markt strömen, die (teils sehr erfolgreich) Barrierefreiheit verkaufen (zu teils marktruinösen Preisen), aber dann am Ende nicht liefern (können), weil halt leider doch die Expertise fehlt. Während sich die überforderte Kundschaft noch die Augen reibt, hängen die selbsternannten Schlaumeier auf dem Pausenhof mit den Lümmeln aus der Accessibility-Overlay-Ecke ab, die inzwischen höchst erfolgreich die Websites sämtlicher Kommunen in Deutschland durchseucht haben … Und als wären das noch nicht genug Probleme, gibt es zusätzlich vereinzelt Fälle, in denen an und für sich geschätzte Barrierefreiheits-Kolleginnen und -Kollegen in feinster Querdenker-Manier hartnäckig draufhalten, die Zertifkate heruntermachen und Inhaberinnen und Inhaber als Wichtigtuer denuzieren. Es ist ein Trauerspiel.

Ich für meinen Teil bin der Überzeugung, dass wir starke, aussagekräftige Kompetenznachweise brauchen, wenn wir nicht den größten Teil des wachsenden Markts in den nächsten Jahren an Schlangenöl-Vertreter abgeben möchten. Die IAAP-Zertifikate mögen in manchen Aspekten verbesserungsfähig sein, aber sie sind in jedem Fall der beste Anfang, den ich bisher auf dem Radar habe. Mir ganz persönlich haben meine Zertifizierungen gerade zum ersten Mal ungeahnte Türen geöffnet — dazu demnächst mehr — und insofern bin ich überaus motiviert, etwas zurückzugeben.

WAS Refresh 2023

Von unserer werten Kollegin Sonja Weckenmann wusste ich bereits, dass der europäische Arm der IAAP, vertreten durch Susanna Laurin, unsere Freunde und Partner bei der DIAS beauftragt hatte, das Curriculum des Web Accessibility Specialist, den sogenannten “Body of Knowledge” (BoK), zu überarbeiten und dabei inhaltlich und formal an die Veränderungen der letzten Jahre anzupassen. Insofern konnte ich die E-Mail-Nachricht, die mir dann vor einigen Wochen ins Postfach flatterte, halbwegs schnell einordnen: Die IAAP lud mich ein, zusammen mit etwa 15 weiteren internationalen Expertinnen und Experten an der Auffrischung der WAS-Zertifizierung mitzuwirken. Was für eine Ehre!

Unscharfes Bildschirmfoto von der ersten Videokonferenz zur Überarbeitung des Web Accessibility Specialist Zertifikats. Im Vordergrund liegt das „IAAP Certified WAS“-Emblem.
Gemeinsamer Auftakt

Viele der rund 15 internationalen Expertinnen und Experten kennen sich bereits — mindestens vom Namen

Quelle: tollwerk GmbH, , Alle Rechte vorbehalten

Vergange Woche fand also das erste virtuelle Treffen der über die ganze Welt verteilten “Subject Matter Experts” (SME) statt, die sich in den kommenden Monaten in die Überarbeitung der WAS-Zertifizierung einbringen werden. Es war mir eine besondere Freude, neben Sonja auch Marcus Herrmann und Beatriz González Mellídez unter den SMEs zu finden, die beide maßgeblich an unserer deutschsprachigen IAAP-Lerngruppe mitgewirkt haben und mitwirken, die sich seit 2 Jahren jeden zweiten Mittwoch zusammenfindet. Ich freue mich aber natürlich auch auf die Zusammenarbeit mit all den anderen Kolleginnen und Kollegen, von denen ich einen Teil bereits (zumindest vom Namen her) kenne.

Meine Beteiligung an der Überarbeitung wird sich dieses Mal auf die Mitwirkung am schriftlichen Curriculum beschränken. Da ich nicht ausschließen kann, dass ich in den kommenden 2 Jahren Vorbereitungskurse und / oder -unterlagen für einzelne IAAP-Zertifikate anbieten möchte, komme ich für das Prüfen und Verfassen von Prüfungsaufgaben nicht in Frage. In jedem Fall freue ich mich sehr auf die Mitwirkung in den kommenden Monaten und bin schon sehr gespannt, wozu wir es mit der Neuauflage des WAS bringen werden. Packen wir es an!