Mehr & Weniger

Veröffentlicht als Meinung
von Joschi Kuphalam

Gestern vor 10 Jahren, am 1. Januar 2014 um 0:00 Uhr, habe ich das Knöpfchen gedrückt. Da waren meine Familie und ich gerade bei meinem Bruder und seiner Familie zu Besuch, und während alle anderen bereits auf der Straße standen und mit Wunderkerzen wedelten, musste ich schnell noch meine erste persönliche Website launchen. Der Plan dazu war lange gefasst, ich hatte monatelang nebenher an der Seite gearbeitet, und meine Erwartungen waren hoch — vor allem an mich selbst. Ich wollte endlich aus meiner kleinen Elektrogrotte krabbeln, Wissen zurückgeben, Artikel schreiben. Bevor jemand zählen geht: Ich habe es auf ganze 12 Artikel gebracht, in 10 Jahren. Den letzten davon habe ich gestern vor 4 Jahren veröffentlicht.

Auch 2014 hatte ich bereits zum Ziel, möglichst standardkonforme Websites zu entwickeln, inklusive meiner eigenen. Doch die Entscheidung, ganz in Richtung Barrierefreiheit abzubiegen, persönlich und mit dem Team, war damals gerade erst am Reifen. Was mich nun seit Jahren vollends auslastet, davon war auf meiner persönlichen Website bis jetzt nichts zu finden — und das ist freilich ein Problem. Es tut sich viel Erfreuliches um mich herum: Sonja hat im letzten Jahr ihre persönliche Website gestartet und arbeitet im Hintergrund längst an coolen Erweiterungen. Angie und Sophie haben das IndieWebCamp im Oktober für sich genutzt und die ersten Schritte in Richtung einer persönlichen Präsenz gemeistert. Und während Matthias das Year of the Personal Website gerade auf 2024 verlängert hat, musste ich vor allem erst einmal eines tun: Den Stecker ziehen. Meine früheren Beiträge sind zwar weiterhin abrufbar, aber seit besagtem IndieWebCamp behauptet eine neue Startseite, ich würde die Website gerade überarbeiten. Aha. Naja. Das Jahr hat ja erst begonnen. ;)

Zur Sache

Es muss also der Tollwerk-Blog herhalten für die folgenden Gedanken, die keinen typischen oder gar vollständigen „2023 im Rückblick“-Beitrag ergeben. Erst recht keinen, der fürs ganze Tollwerk stehen würde. Stattdessen möchte ich ein paar persönliche Jahres-Mitbringsel festhalten, die mich im Moment besonders beschäftigen, und bei denen es wohl klug wäre, wenn ich sie auch im anstehenden Jahr nicht vergessen würde.

Mehr

Ich will mit jenen Dingen beginnen, von denen ich im letzten Jahr mehr hatte als zuvor. Und was könnte ich an erster Stelle anderes nennen als: Arbeit. „Man schläft, wie man sich bettet“, werden manche sagen — und haben damit natürlich Recht. Trotzdem denke ich, dass es sich lohnt, etwas genauer hinzusehen, denn es ergeben sich vielleicht Zusammenhänge mit anderen Beobachtungen. Und womöglich auch Rückschlüsse darauf, wie wir uns auf die kommenden Monate einstellen sollten.

Speziell im letzten Jahr haben uns zunehmend Anfragen erreicht, bei denen es „nicht nur“ um einfache Tests auf Barrierefreiheit ging, oder um die Entwicklung zugänglicher Websites. Stattdessen hören wir immer häufiger ganzheitliche Fragen:

Wie können wir uns dem Thema Barrierefreiheit nähern?
In welchen Bereichen müssen wir aktiv werden?
Mit welcher Priorität, und was brauchen wir dazu?

Immer seltener werden „nur“ die typischen Deliverables — Websites, Dokumente, Printprodukte oder Prüfberichte — bestellt und dann die Projekte beendet. Stattdessen sind es immer häufiger umfassende, teils langfristige Beratungs- und Schulungsmandate, die kontinuierliche Begleitung bei der Entwicklung eines barrierefreien Produkts oder die Ausarbeitung spezifischer Workflows und disziplinenübergreifender Methoden. Die Mischung ist hochspannend — und fordert uns mitunter vielfältig:

  • inhaltlich — wo doch Ausgangssituation und Anforderungen immer wieder sehr individuell sind. Wir begeben uns laufend in unbekanntes Terrain und brauchen dafür Erfahrung, Kreativität und Vertrauen in die eigene Kompetenz zu gleichen Teilen.
  • bandbreitentechnisch — wo uns doch regelmäßig gespiegelt wird, dass es gerade der große thematische Querschnitt und die Freihändigkeit im Spielen unserer Themen sind, die unsere Leistung qualitativ prägen.
  • kapazitiv — wo doch die Nachfrage (sicherlich auch als vorauseilende Begleiterscheinung des European Accessibility Act) hoch und steigend ist, und gerade die vielschichtigen Engagements unsere Ressourcen besonders umfassend und langfristig binden.

Im Prinzip mag ich die beschriebene, „neue“ Art von Projekt sehr, gibt sie uns doch reichlich Möglichkeit, unseren Leitsatz anzuwenden: Durch den begleitenden, beratenden und schulenden Aspekt können wir Sensibilität und Wissen vermitteln und Barrierefreiheit nachhaltig als Grundhaltung verankern, ganz unabhängig von uns und unserer Leistung. Gleichzeitig stehen wir — zumindest momentan — vor dem Problem, dass bei uns im Team vor allem ich für den Großteil solcher Projekte prädestiniert bin (zumal auch nicht wenige davon personenbezogen vergeben werden). Und damit sind wir wieder beim Thema: Es ist nicht nur „mehr“ Arbeit für mich, sondern schlicht „zu viel“.

Wir haben uns Maßnahmen überlegt, wie wir der veränderten Nachfrage und unserem Engpass begegnen werden, aber das soll hier nicht Thema sein. Fest steht jedoch: Wir müssen am Ball bleiben, denn andernfalls bleibt zu befürchten, dass jeder Meter, den wir nicht zusammen mit unseren geschätzten Kolleg*innen da draußen gutmachen können, auf kurz oder lang an Overlay-Anbieter oder andere Quacksalber verloren ist — die beide ebenfalls Hochkonjunktur haben. Auf der Positivseite können wir vermelden, dass wir zumindest bei zwei namhaften Projekten erwirken konnten, dass sie künftig auf Overlays verzichten werden. Heißa! \o/

Außenaufnahme eines der THWS-Gebäude im Sonnenuntergang. Die Szenerie ist ein tiefes blau-lila getaucht, in den Fenstern spiegelt sich jedoch der gelb-orange Sonnenuntergang.
Mehr Lehre

An der THWS vermittelt Joschi erstmals offiziell „Digitale Barrierefreiheit“ als semesterfüllendes, fachbezogenes Wahlpflichtmodul

Quelle: Joschi Kuphal, , Alle Rechte vorbehalten

Ein anderer, klar positiv geladener Begriff, von dem ich 2023 mehr hatte, ist Lehre. Ich beziehe ihn nicht allein auf den neuen Lehrauftrag „Digitale Barrierefreiheit“, den ich seit Oktober an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt habe, sondern schließe alle Gelegenheiten ein, zu denen ich mich strukturiert für die Aus- und Weiterbildung anderer einsetzen konnte. Ich schätze, dass ich im vergangenen Jahr durchschnittlich einen Tag pro Woche (oder mehr) damit beschäftigt war, zu sensibilisieren, Wissen zu vermitteln oder anderweitig zu trainieren. Zu den Lernenden zählten Kund*innen und Projektpartner*innen, Workshop-, Lerngruppen- und Konferenz-Teilnehmende, Studierende, die Kinder und Jugendlichen unseres CoderDojos und nicht zuletzt unser eigenes Team. Anderen mit Leidenschaft ein Thema nahezubringen, so dass der Funke wenigstens ein bisschen überspringt, gibt mir bereits extrem viel — und positive Rückmeldungen von außen kommen dann noch oben drauf. Steigern möchte ich das Maß an Lehre nicht, steht sie doch auch in Konkurrenz mit meiner Kapazität für anderes (siehe oben). Als Dozent noch besser werden darf ich aber allemal.

Weniger

Die Dinge, von denen ich im vergangenen Jahr weniger hatte, sind vermutlich durchweg Folgen des oben beschriebenen Mehr an Arbeit. Und während letzterem wenigstens teilweise Positives abzugewinnen ist, so kann ich von den folgenden, nur kurz angerissenen Punkten keinen wirklich gut finden. Dass ich sie trotzdem hier hinstelle, ist nicht Ausdruck von Klage — alles davon liegt nämlich in meiner eigenen Hand. Die Liste soll mir eher als Denkzettel dienen, im kommenden Jahr möglichst viel davon wieder besser in den Griff zu bekommen.

Zunächst wäre da die Feststellung, dass sich das, was andere Freizeit nennen, für mich im vergangenen Jahr weiter verringert hat. Zwar war es mir persönlich noch nie wichtig, Arbeit und Freizeit als getrennte Dinge zu sehen, geschweige denn, sie einander gegenüberzustellen oder eine Balance dazwischen zu suchen. Ich glaube nicht, dass ich in diesen beiden Betriebsmodi funktioniere. Trotzdem ist mir klar, dass mein Umgang damit sehr persönlich, privilegiert und generationengeprägt ist, und dass es nicht allein um mich geht. Weder für meine Familie, noch für unser Team bin ich in diesem Punkt ein Vorbild.

Apropos: Auch die Zeit mit dem Team ist im vergangenen Jahr viel zu kurz gekommen. Ich war zeitweise so sehr mit Solo-Gigs beschäftigt, dass wir uns bereits ernsthaft gefragt haben, wie wir es hinbekommen, im Inneren trotzdem ein Team zu bleiben. Immerhin ist nicht nur unsere Kundschaft an meiner Gegenwart interessiert, sondern auch das Team möchte hier und da Unterstützung und Wertschätzung erfahren. Sicher wird gerade auf mich auch nach 2 Jahren kollegialer Führung (noch) etwas mehr projiziert, als auf andere im Team, aber im Kern ist die Aussage korrekt: Ich bin einfach zu wenig gegenwärtig.

Schließlich — und persönlicher wird es dann nicht — muss ich mir fürs letzte Jahr auch weniger Gesundheit attestieren. In den letzten 2 Jahren habe ich rund 15 Kilogramm zugelegt. Meine Sehkraft lässt spürbar nach und meine Brillengläser brauchen dringend ein Update. Mit dem wochenlangen, nächtlichen Bau unserer Studiokabinen im letzten Winter habe ich mich gründlich überlastet und mir einen Tennisarm eingefangen, der mich bis in den Herbst begleitet hat. Im September fand es die Entzündung dann cool, in meine Fersen umzuziehen, was mir seit da das Laufen verleidet und mich effektiv seit Sommer vom Karate-Training abhält. Dass alles irgendwie zusammenhängt, finde ich alles andere als abwegig.

Okay, okay …

Aus den „schnellen Gedanken“ zum Jahreswechsel ist nun doch ein halbwegs ausgewachsener Text geworden, den ich leider deshalb auch erst heute, einen Tag verspätet zur Tür hinaus bekomme. Um trotz aller Grübelei auf einer hohen Note zu enden: Gerade genieße ich noch die letzten Tage unserer kleinen Winterpause und freue mich schon enorm auf das offizielle Jahres-Kick-Off im Team, das nächste Woche ansteht. Seit ein paar Jahren wählen wir uns dann immer ein persönliches 1-Wort-Jahres-Motto, ohne Erklärung (oder nur wer will). Für 2023 hatte ich mir „Suffizienz“ ausgesucht — ich wollte vor allem darauf achten, wo ich Ressourceneinsatz und Konsumverhalten verbessern kann. Mein Motto für das neue Jahr steht bereits fest, und irgendwie freue ich mich schon darauf, daran und damit zu arbeiten. Wer ahnt, was mir vorschwebt? Habt ihr auch für euch ein solches Motto?

Joschi sitzt im Schneidersitz auf einer Gartenliege vor einem aus groben Steinen gemauerten Ferienhaus in Madeira. Er trägt einen Kopfhöhrer und arbeitet an seinem Laptop.
Winterpause

Muster lassen sich meist mit etwas Abstand am besten erkennen.

Quelle: Umi Kuphal, , Alle Rechte vorbehalten

Ein erfülltes, erfolgreiches und gesundes 2024 wünsche ich allen!