Digitaler Produktpass für das Web

Veröffentlicht als Meinung
von Sonja Weckenmannam

Im Rahmen unserer ersten Gemeinwohl-Bilanz haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie wir als Digitalagentur Nachhaltigkeitsziele nicht nur ambitioniert umsetzen, sondern auch transparent gestalten und in die Gesellschaft tragen können.

Unsere Recherche zu innovativen Ansätzen machte uns auf das Konzept des digitalen Produktpasses aufmerksam. Dieses politische Instrument könnte ein entscheidender Baustein sein, um Nachhaltigkeit entlang der Wertschöpfungskette sichtbar und messbar zu machen. Was verbirgt sich dahinter, und wie kann es den Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit fördern?

Zum Einstieg soll es aber erst einmal darum gehen, was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist, welche Strategien notwendig sind und wie auf dieser Basis politische Maßnahmen aufsetzen.

Nachhaltigkeit

Grundsätzlich bedeutet Nachhaltigkeit eigentlich nur, dass etwas „nach-haltig“ ist, das heißt für eine lange Zeit erhalten bleibt. Viele von uns denken dabei vielleicht in erster Linie an ökologische Nachhaltigkeit, also daran, den ökologischen Fußabdruck möglichst gering zu halten.

Seit den 1990er-Jahren dienen nicht nur Ökologie, sondern auch Soziales und Ökonomie als Grundlage für nachhaltige Entwicklung. Neben dem Schutz von Ökosystemen und dem Kampf gegen den Klimawandel stehen soziale Gerechtigkeit, die Förderung von Bildung und Gleichberechtigung sowie die Sicherstellung fairer Arbeitsbedingungen und eine Wirtschaft, die einen gerechten gemeinsamen Wohlstand zum Ziel hat, im Fokus. Effizienz, Konsistenz und Suffizienz repräsentieren dabei verschiedene Ansätze zur Förderung von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung.

Effizienz zielt darauf ab, mit weniger Ressourcen, etwa Energie und Material, die gleiche oder sogar eine höhere Leistung zu erzielen – also „mehr mit weniger erreichen“. Gleichwohl bergen solche Einsparungen auch die Gefahr, dass sie durch gesteigerten Konsum wieder zunichtegemacht werden. Man bezeichnet dies als Rebound-Effekt. Moderne Smartphones sind beispielsweise energieeffizienter, gleichzeitig verbringen Nutzende mehr Zeit am Gerät und nutzen leistungshungrigere Apps. Die positive Wirkung verpufft.

Konsistenz setzt auf die ressourcenschonende Nutzung von Stoffen des Ökosystems sowie eine Umstellung der Produktion hin zur Kreislaufwirtschaft – also „Dinge besser machen“. Technologische Grenzen stellen bei dieser Strategie eine der Herausforderungen dar. Viele Materialien können derzeit nicht vollständig recycelt werden, und Software-Updates sind oft nicht für ältere Hardware optimiert.

Insbesondere im Kontext der beschriebenen Fallstricke von Effizienz und Konsistenz bekommt Suffizienz eine besondere Bedeutung. Sie strebt an, den absoluten Ressourcen- und Energieverbrauch durch weniger Produktion und Konsum zu reduzieren. Die Zielsetzung „Weniger ist mehr“ verlangt dabei tiefgreifende individuelle und gesellschaftliche Verhaltensänderungen. Suffizienz bietet großes Potenzial, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, erfordert jedoch ein Umdenken hin zu einer bewussten Lebensweise.

Ökodesign-Verordnung für nachhaltige Produkte

Zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft und der Verlängerung der Produktlebensdauer wurde im Rahmen des europäischen Green Deals die Ecodesign for Sustainable Products Regulation (ESPR) entwickelt. Am 14. Juli 2024 in Kraft getreten, ersetzt sie die bisherige Ökodesign-Richtlinie 2009/125/EG und nimmt den gesamten Lebenszyklus eines Produkts in den Fokus.

Die Maßnahme stärkt nicht nur die Kreislaufwirtschaft und damit Konsistenz, sondern fördert auch absolute Ressourceneinsparungen und damit Suffizienz. Durch die verlängerte Nutzungsdauer von Produkten sinkt beispielsweise die Notwendigkeit für Neuproduktionen — ein Ansatz, der die Prinzipien von avoid, reduce, reuse, recycle, rethink konsequent unterstützt.

Die neue ESPR umfasst nahezu alle Produktkategorien und legt Anforderungen fest, die Aspekte wie Haltbarkeit, Wiederverwendbarkeit, Reparierbarkeit, Ressourceneffizienz, Recyclingfähigkeit und den Rezyklatanteil betreffen. Sie fordert außerdem eine transparente Ausweisung des CO₂- und Umweltfußabdrucks sowie die Begrenzung gefährlicher Stoffe.

Als erste neue Produktgruppen nennt die ESPR Textilien und Schuhe, Möbel, Eisen, Stahl und Aluminium, Detergenzien beziehungsweise Reinigungsmittel und Chemikalien. Auch Informations- und Kommunikationstechnologie ist Teil des ersten Arbeitsplans. In den kommenden Jahren sollen produktspezifische Verordnungen für diese und weitere Kategorien ausgearbeitet werden. Erste Verordnungen, etwa für Textilien und Stahl, werden bis Ende 2025 erwartet.

Der digitale Produktpass

Die ESPR führt erstmals den digitalen Produktpass als verbindliche Anforderung ein, um Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit zu fördern. Dieser Produktpass stellt standardisierte Informationen bereit, die etwa über einen QR-Code einfach und direkt für alle Wirtschaftsakteure sowie Nutzende abrufbar sein sollen. Ziel ist es einerseits, Transparenz zu schaffen, um Konsumierende und Unternehmen bei nachhaltigen Kaufentscheidungen zu unterstützen, und andererseits, Lieferketten durch den verbesserten Zugang zu relevanten Daten effizienter zu gestalten. Die Europäische Kommission hat die Organisationen CEN, CENELEC und ETSI beauftragt, harmonisierte europäische Normen für das System des digitalen Produktpasses zu entwickeln.

Eine Leine mit bunten Wäschestücken an einem Berghang, im Hintergrund ist der Himmel grau
Konsistenz

Die neue Ökodesign-Verordnung nimmt den gesamten Lebenszyklus eines Produkts in den Fokus

Quelle: Sonja Weckenmann, , Alle Rechte vorbehalten

Ein Produktpass für das Web?

Derzeit fordert die ESPR den digitalen Produktpass nur für physische Produkte, etwa das Smartphone, das Tablet oder den Computer, um im digitalen Bereich zu bleiben. Diese elektronischen Geräte setzen bei der Herstellung unterschiedlich viel CO₂ frei. Viele Teile von Elektrogeräten können außerdem nicht oder nur schwer recycelt werden. Digitale Produkte und Dienstleistungen wie Websites oder Webanwendungen sind derzeit nicht in der Verordnung enthalten.

Tim Frick, Gründer und Präsident von Mightybytes sowie Mitvorsitzender der Sustainable Web Interest Group des W3C, hat in seinem Blogartikel Can Digital Product Passports Save the Web? ein Konzept auf Basis der Web Sustainability Guidelines (WSG) entwickelt, wie ein digitaler Produktpass für webbasierte Produkte aussehen kann.

Die WSG definieren Empfehlungen und Anforderungen, die bei der Umsetzung von nachhaltigem Webdesign unterstützen. Sie umfassen ökologisch, sozial und wirtschaftlich ausgerichtete Erfolgskriterien sowie Hinweise zur Messung des Fortschritts und könnten als Basis für einen digitalen Produktpass für webbasierte Produkte dienen.

Mögliche Daten für den Produktpass

Tim Frick entwirft in seinem Blogartikel einen Produktpass für webbasierte Software und identifiziert dafür folgende Bereiche:

1. URL und Inhaberschaft der Domain

  • Betreibende / verantwortliche Person für Nachhaltigkeit: Angabe der Person und / oder Organisation

WSG-Ausrichtung: 5.2: Assign a Sustainability Representative

2. Lebenszyklus

  • Launch: Angabe des Jahres
  • Design und Entwicklung: Angabe der verantwortlichen Person / Organisation
  • Wartung: Angabe der verantwortlichen Person / Organisation
  • Historie der Updates: Einschließlich Angaben zu veralteter Software und Fortschritten im Laufe der Zeit in Bezug auf Nachhaltigkeitsziele

WSG-Ausrichtung: 2.25 Conduct Regular Audits, Regression, and Non-Regression Tests / 5.12 Implement Continuous Improvement Procedures / 5.13,Document Future Updates and Evolutions / 5.1.3 Document Future Updates and Evolutions / 5.15 Determine the Functional Unit / 5.22 Promote and Implement Responsible Emerging Technology Practices

3. Sicherheitsmaßnahmen und Datenschutz

  • Sicherheit: Angabe der Sicherheitsrichtlinie, der Firewall-Software und anderer Sicherheitsmaßnahmen
  • Wartung: Angaben zu Maintain Software Updates beziehungsweise zu aktuell gehaltenem Code
  • Transparenz: Transparente Angaben zu Verstößen und Risiken

WSG-Ausrichtung: 2.2 Assess and Research Visitor Needs / 2.25 Conduct Regular Audits, Regression, and Non-Regression Tests / 3.16 Ensure Your Scripts are Secure / 5.13 Document Future Updates and Evolutions / 5.20 Promote Responsible Data Practices / 5.25 Plan for a Digital Product or Service’s Care and End-of-Life

4. Einhaltung gesetzlicher Vorschriften

  • Gesetzliche Vorgaben: Angaben zu verpflichtenden Gesetzen (zum Beispiel Sicherheit, Barrierefreiheit, Datenschutz, geistiges Eigentum)
  • Letztes Audit: Datum und Ergebnis
  • Verbesserung der Compliance: Angaben zu durchgeführten und geplanten Maßnahmen
  • Ausstehende Gesetze: Angaben zu Gesetzen, die zukünftig relevant sein können

WSG-Ausrichtung: 3.8 Use HTML Elements Correctly / 3.16 Ensure Your Scripts are Secure / 3.20 Avoid Using Deprecated or Proprietary Code / 5.9 Support Mandatory Disclosures and Reporting / 5.20 Promote Responsible Data Practices

5. Website-Richtlinien

  • Website-Richtlinien: Gebündelte Angaben zu Richtlinien, die die Website betreffen (zum Beispiel ethischer Kodex, Datenschutzrichtlinie, Lieferantenrichtlinie, Open-Source-Richtlinie, DEI-Erklärung, Barrierefreiheitserklärung, Nachhaltigkeitserklärung usw.)

WSG-Ausrichtung: 5.16 Create a Supplier Standards of Practice / 5.19 Use Justice, Equity, Diversity, Inclusion (JEDI) Practices / 5.21 Align Technical Requirements with Sustainability Goals / 5.23 Include Responsible Financial Policies / 5.24 Include Organizational Philanthropy Policies / 5.26 Include E-Waste, Right-to-Repair, and Recycling Policies / 5.28 Use Open Source Tools

6. Organisatorische Richtlinien

  • Organisatorische Richtlinien: Gebündelte Angaben zu Richtlinien und Praktiken der Organisation im Hinblick auf die Grundsätze eines gemeinsamen wirtschaftlichen Wohlstands (zum Beispiel B Corp, Online-Ratings, wie etwa von Charity Navigator oder Net Promoter, Zertifizierungen gemäß Impact Business Model (IBM)).

WSG-Ausrichtung: 5.6 Verify Your Efforts Using Established Third-Party Business Certifications / 5.10 Create One or More Impact Business Models / 5.5 Estimate a Product or Service’s Environmental Impact

7. Drittanbieter

  • Agentur: Angaben zur verantwortlichen Organisation (Design, Entwicklung und Wartung)
  • Hosting: Angaben zum Hosting-Anbietenden und dessen Nachhaltigkeits- oder Netto-Null-Verpflichtungen
  • Software: Angaben zur Entwicklung und Wartung von Website-Plugins, Skripten und Diensten von Drittanbietenden (wie Newsletter-Abonnements und CRM-Systeme) sowie deren glaubwürdige Nachhaltigkeitsverpflichtungen und potenzielle Sicherheitsrisiken
  • Werbung: Angaben zu Drittanbietenden von Cookies, Werbetrackern u. Ä. sowie deren soziale und ökologische Verpflichtungen

WSG-Ausreichtung: 3.7 Rigorously Assess Third-Party Services / 3.17 Manage Dependencies Appropriately / 5.16 Create a Supplier Standards of Practice

8. Digitale CO₂-Bewertungen

  • Digitale CO₂-Bewertungen: Angaben zu CO₂-Bewertungen, zum Beispiel mit Ecograder

WSG-Ausrichtung: 5.9 Support Mandatory Disclosures and Reporting

9. Energiedaten

  • Hosting: Angaben zu Hosting mit erneuerbaren Energien und der CO₂-Intensität in der Hosting-Region eines Produkts oder einer Dienstleistung
  • Dienste von Drittanbietenden: Angaben zur etwaigen Nutzung erneuerbarer Energien für Dienste, Skripte oder Frameworks von Drittanbietenden
  • Messung: Angaben zu den geschätzten Emissionen im Kontext des Produkts, zur Strategie zur Reduktion sowie zur Methodik der Schätzung

WSG-Ausrichtung: 4.1 Choose a Sustainable Hosting Provider / 5.1 Have an Ethical and Sustainability Product Strategy / 5.5 Estimate a Product or Service’s Environmental Impact / 5.9 Support Mandatory Disclosures and Reporting

10. Datenschutzpraktiken

  • Datenerfassung: Angaben zur Berücksichtigung bewährter Datenschutzpraktiken (z. B. Einverständniserklärung und Opt-in im Vergleich zu Opt-out)
  • Datenverfolgung: Angaben zu Organisationen, mit denen Daten geteilt oder an die Kundendaten verkauft werden
  • Spam-Bewertung: Angaben zur Häufigkeit von Nachrichten, die von Nutzenden als Spam markiert wurden (im Kontext des Produkts)
  • Recht auf Vergessen: Angaben zum respektvollen Umgang mit dem Recht einer Person auf vollständige Entfernung personenbezogener Daten aus Marketinglisten oder Unternehmensunterlagen

WSG-Ausrichtung: 2.2 Assess and Research Visitor Needs / 4.12 Store Data According to Visitor Needs / 5.20 Promote Responsible Data Practices / 5.25 Plan for a Digital Product or Service’s Care and End-of-Life

11. Lebensende

  • Übertragung der Verantwortlichkeit und Kontrolle über Daten: Angaben zur Kundeninformation im Falle eines Buyouts oder eines Eigentumswechsels
  • Datenlöschung: Angaben zur Löschung veralteter oder anderweitig obsolet gewordener Daten

WSG-Ausrichtung: 5.25 Plan for a Digital Product or Service’s Care and End-of-Life / 5.26 Include E-Waste, Right-to-Repair, and Recycling Policies / 5.29 Create a Business Continuity and Disaster Recovery Plan

Potenziale und Perspektiven

Der digitale Produktpass der ESPR fördert Nachhaltigkeit, Transparenz und Vertrauen und unterstützt Unternehmen dabei, ökologische, ethische und gesetzliche Anforderungen zu erfüllen. Er bietet einen umfassenden Überblick über den Lebenszyklus und die Auswirkungen von Produkten. Die Umsetzung eines digitalen Produktpasses bringt jedoch auch verschiedene technische und organisatorische Herausforderungen mit sich. Dazu gehören unter anderem die Integration und Verwaltung von Daten, die klare Zuordnung von Zuständigkeiten sowie die Transparenz, Genauigkeit und Verlässlichkeit der Daten von Drittanbietenden.

Derzeit gibt es keine Rechtsvorschriften, die soziale oder ökologische Aspekte digitaler Produkte und Dienstleistungen regeln. Der Zeitrahmen für die Ausarbeitung neuer ESPR-Produktgruppen wird sich sicher bis in die 2030er-Jahre erstrecken. Bislang werden Softwareprodukte in den Arbeitsplänen nicht erwähnt.

Könnte ein digitaler Produktpass für Websites und Webanwendungen ein sinnvoller Schritt in Richtung nachhaltiger Webentwicklung sein? Welche Chancen ergeben sich, um mehr Transparenz über den Lebenszyklus und die Auswirkungen digitaler Produkte zu schaffen? Inwieweit könnten solche Konzepte dazu anregen, nachhaltiger zu werden? Ein Produktpass für digitale Produkte könnte Anbietende und Nutzende stärker für das Thema digitale Nachhaltigkeit sensibilisieren und durch Referenzen auf standardisierte Anforderungen und Empfehlungen in den WSG motivieren, nachhaltigere Produkte zu entwickeln. Gleichzeitig stellen sich auch praktische Fragen: Würde ein Produktpass für Websites und Webanwendungen mit all seinen Herausforderungen einen tatsächlichen Mehrwert bieten oder bleibt das Konzept zu theoretisch und wenig praxisorientiert?

Wir sind gespannt auf eure Perspektiven! Lasst uns wissen, wie ihr das Thema in der Praxis einschätzt und wo ihr Potenziale sowie Herausforderungen seht.