Barrierefreiheit für Kulturinstitutionen
Das Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst hat Kulturinstitutionen eingeladen, sich zur digitalen Kulturvermittlung zu ertüchtigen. Das Rendezvous mit der digitalen Barrierefreiheit war unser Part.
Nicht erst, aber ganz besonders in Corona-Zeiten produzieren Kulturinstitutionen verstärkt digitale Angebote. In den letzten Jahren hat sich eine Menge ins Netz und auf verschiedenste Medien verlagert — und es treten jede Menge Herausforderungen zu Tage, mit denen sich die Teams bei der Ideenfindung, Konzeption und Umsetzung kreativer Lösungen konfrontiert sehen. Das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst hat deshalb eine Web-Seminarreihe zur Digitalen Kulturvermittlung gestartet, um Kulturinstitutionen bei der Digitalisierung zu unterstützen.
Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe fand am 5. Mai ein eintägiges Speed Dating
statt, bei dem sich Kulturinstitutionen mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Bild- und Urheberrecht, Content-Strategie, Storytelling, Social Media und zu digitalen Geschäftsmodellen im Allgemeinen treffen und austauschen konnten. Mit dabei war auch Joschi Kuphal: In 8 halbstündigen Zeitfenstern empfing er Vertretende einzelner Kulturinstitutionen und beantwortete allerlei Fragen rund um digitale Barrierefreiheit. Ein anstrengender, aber allemal lohnender Marathon.
Mit freundlicher Genehmigung des Staatsministeriums dürfen wir das fast halbstündige Interview mit Joschi Kuphal, mit dem sich die Kulturinstitutionen im Vorfeld dem Thema annähern konnten, hier bei uns veröffentlichen.
Transkript: Deutsch (German)
KATHRIN B. ZIMMER: Ja, lieber Herr Kuphal, herzlich willkommen hier in dieser Reihe „Digitale Kulturvermittlung“. Sie werden jetzt heute und vor allem dann aber bei unserer Highlight-Veranstaltung „Digitale Kulturvermittlung Hands-On“ den Part digitale Barrierefreiheit bestreiten. Was bezeichnet denn dieser Begriff der digitalen Barrierefreiheit eigentlich? Welche zentralen Aspekte sehen Sie da?
JOSCHI KUPHAL: Also erstmal herzlichen Dank, dass ich heute dabei sein darf. Freut mich, dass ich etwas dazu sagen darf. Das Thema digitale Barrierefreiheit ist ein sehr weites Feld und ich versuche mal, so einen kleinen Überblick darüber zu geben, wie ich das Ganze definiere und auch in meiner täglichen Praxis definiere.
Barrieren im baulichen Bereich kennt eigentlich jeder, nehme ich mal fast an. Ich nehme mal als ganz einfaches Beispiel eine Treppe: Die kann ein Hindernis sein für Menschen, die nicht so besonders fit sind oder natürlich auch für Rollstuhlfahrer. Ich versuche jetzt aber im ersten Moment mal ausgerechnet Behinderungen auch ein bisschen auszuklammern. Ein anderes Beispiel wäre ein niedriger Durchgang: An dem kann man sich leicht den Kopf stoßen. Für Menschen, die größer gewachsen sind es auch das eine Barriere.
Ähnliche Situationen gibt es auch im digitalen Bereich. Bei „Digital“ denkt man jetzt natürlich in erster Linie mal ans Internet — bleiben wir kurz dabei, zum Beispiel: Schwierige Kontrastverhältnisse können ein Problem sein für sehschwache Menschen, oder beispielsweise im Tageslicht draußen in der Sonne kann auch das zum Problem werden. Oder beispielsweise, wenn Texte kompliziert geschrieben sind, sprachliche Komplexität haben, dann kann das schwierig zu verstehen sein für Menschen, die nicht so viel Erfahrung damit haben, oder nicht-muttersprachliche Menschen beispielsweise.
Das sind also Barrieren, wie sie im digitalen Bereich vorkommen, und die digitale Barrierefreiheit beschäftigt sich also im Allgemeinen mit Medien und ihren besonderen Eigenschaften. Medien heißt jetzt in dem Sinn: Texte, Bilder, Videos und was man sich auch sonst vorstellen kann, und deren Anwendung im digitalen Bereich, also beispielsweise auf einer Website, in Apps, Podcasts, in — wenn ich jetzt an die Kulturinstitutionen denke — in Medienstationen, beispielsweise in einem Museum und so weiter und so weiter.
Die Barrierefreiheit beschäftigt sich also damit, allen Nutzenden einen möglichst umfassenden Zugang zu solchen Medien zu bieten und am Ende ein gleichwertiges Erlebnis für alle herzustellen. Auch für Nutzerinnen und Nutzer, die das vielleicht nicht den ganz üblichen Konventionen entsprechend konsumieren müssen. Ich habe jetzt gerade schon den Rollstuhlfahrer erwähnt als Beispiel für jemanden, der Probleme mit einer Treppe haben könnte. Und sicherlich denkt man jetzt bei Barrierefreiheit in aller erster Linie mal an Behinderungen oder Menschen mit Behinderungen, und das macht natürlich auch Sinn, an sie zu denken: Sie sind besonders von Barrieren betroffen — aber eben nicht nur. Das würde ich gerne so ein bisschen erläutern, wen ich denn als potenziellen Nutznießer von Barrierefreiheit sehe.
Wenn ich jetzt die Barrieren erstmal … die Behinderungen hernehme und als Beispiel für solche Menschen nenne, die davon profitieren, dann kann ich die Behinderungen erstmal aufgrund ihrer Art unterscheiden. Beispielsweise habe ich Sinnesbehinderungen, also alles, was mit Wahrnehmung zu tun hat: Sehen, Hören. Das sind natürlich ganz besonders plakative Beispiele für Menschen, die von Barrieren betroffen sind. Ich habe aber auch körperliche Behinderungen, also Menschen, die beispielsweise Geräte, Computer nicht so bedienen können, wie das unversehrte Menschen tun können. Da spielt beispielsweise alles, was Eingabegeräte bedeutet, eine große Rolle. Dann habe ich als weitere Barriere … weitere Behinderung beispielsweise Sprach- und Sprech- und Lesebehinderungen. Die zwei Sachen gehen immer sehr gern ein miteinander einher. Und zum Schluss gibt es noch eine große Gruppe von kognitiven Behinderungen, also alles, was mit Verständnis, mit Abstraktionsvermögen, Lernvermögen und so weiter zu tun hat. Ein ganz großes Gebiet. Es ist auch tatsächlich das, was am schwierigsten zu behandeln ist sozusagen, also im Sinne der digitalen Barrierefreiheit, weil dieses Feld zu groß ist und wenig Techniken zur Verfügung stehen.
Ich kann solche Behinderungen aber auch anhand ihrer Dauer unterscheiden. Wir haben auf der einen Seite natürlich permanente Behinderungen, also Einschränkungen, die jemand haben kann, die ihn körperlich auf lange Sicht oder vielleicht fürs ganze Leben definieren. Ich habe es aber auch mit situativen Behinderungen oder temporären Behinderungen zu tun. Einmal kann ich mir zum Beispiel den Arm brechen und dann für eine Weile nicht in der Lage sein, eine Maus zu bedienen. Auch das kann für einen gewissen Zeitraum eine Barriere sein. Aber auch situativ: Es kann sein, dass ich mein kleines Kind auf dem Arm habe oder mit dem Latte macchiato aus der Straßenbahn steige und nur mit einer Hand mein Handy bedienen kann. Auch das ist eine Form von Einschränkung, der ich an der Stelle unterliege und alles das sind Situationen, in denen Barrierefreiheit für Linderung sorgen kann.
Ich habe ja vorhin schon gesagt: Es sind längst nicht nur behinderte Menschen, die Probleme mit Barrieren haben. Sondern wenn man das Ganze mal weiter denkt, dann fallen einem noch eine ganze Menge anderer Zielgruppen ein. Beispielsweise unerfahrene Nutzerinnen und Nutzer. Ich sage jetzt mal: Menschen, die nicht so die Erfahrung im Umgang mit digitalen Medien haben. Das könnten Seniorinnen und Senioren sein, oder auch Kinder. Dann könnten es im Bereich schwierige Verständlichkeit beispielsweise nicht-muttersprachliche Menschen auch mit Barrieren zu tun haben. Ich habe gerade das beispiel mit dem Hipster und seinem Latte macchiato genannt, also mobile Nutzerinnen und Nutzer sind sicherlich auch noch mal eine Zielgruppe, die noch ganz eigenen Einschränkungen unterliegt, vielleicht sogar auch durch die technische Ausstattung, die sie haben oder nicht haben. Und wenn man das Ganze noch weiter denkt und mal aus dem menschlichen Bereich hinausgeht, dann sind zum Beispiel auch Suchmaschinen Nutzer, die mit einem ganz eingeschränkten Spektrum auf digitale Medien losgehen und längst nicht alles verstehen. Also auch im maschinellen Bereich kommen Barrieren möglicherweise zum Tragen.
Wenn man das Ganze ganz weit denkt, dann kommt man am Ende dabei raus, dass wir alle irgendwann von Barrieren betroffen sind — wenigstens in bestimmten Situationen in unserem Leben. Ich glaube, wenn wir älter werden, dann sind wir früher oder später alle in irgendeiner Form von Einschränkungen betroffen, und allein schon deswegen macht es ganz großartigen Sinn, sich mit Barrierefreiheit zu befassen, sich möglichst früh damit zu befassen und das einfach von Anfang an mitzudenken.
Diese Barrieren, von denen jetzt die ganze Zeit spreche: Ich möchte auch da mal ganz kurz eine Definition präsentieren. Was sind das eigentlich alles für Barrieren, die wir in dem Bereich digitale Barrierefreiheit beachten können und müssen? Ich unterscheide gerne vier verschiedene Kategorien von Barrieren, die will ich kurz aufzählen und vielleicht auch mal so ein-zwei Beispiele nennen, dass man sich vorstellen kann, in welche Bereiche das alles reingeht.
Das Einfachste, was wahrscheinlich sehr einleuchtend und verständlich ist, ist das, was ich immer als „Design-Barrieren“ bezeichne. Also Barrieren, die entstehen, weil mangelhafte oder unflexible Gestaltung angebracht wurde. Das könnten zum Beispiel jetzt, wenn ich an eine Webseite denke, übersichtliche Layouts sein, oder eine sehr komplexe Nutzerführung, oder unlogische Abläufe beispielsweise. Mangelhafte Textgestaltung ist ein Beispiel dafür. Wenn ich zu kleine Schrift habe oder eine schlecht leserliche Schriftart, dann kann das Probleme darstellen für die ein oder anderen, oder das Beispiel, das ich vorhin schon hatte, nämlich schwierige Kontrast- oder Farbverhältnisse. Man muss vielleicht dazu wissen, dass in Deutschland etwa zehn Prozent aller Männer farbfehlsichtig sind. Das bedeutet: Wenn Sie in einem Onlineshop einen grünen Button haben, der bedeutet, sie kaufen da was, dann haben sie schon mal jeden zehnten Mann in Deutschland immerhin in wirkliche Schwierigkeiten gebracht, möglicherweise.
Neben den Design-Barrieren gibt es die zweite Kategorie, nämlich „technisch-funktionale Barrieren“. Also alles, was durch Fehler in der technischen Umsetzung oder mangelhafte technische Umsetzung zustande kommt. Das heißt, es richtet sich in erster Linie an Webentwicklerinnen und Webentwickler. Sowas kann zum Beispiel entstehen, weil eine fehlerhafte oder mangelhafte Struktur unter einer digitalen Anwendung, einer Webseite liegt. Da müsste ich in die Tiefe gehen, um zu beschreiben, was das bedeutet — das spare ich mir hier in diesem Kurzinterview und führe das gerne dann am Veranstaltungstag aus. Aber was das Resultat beispielsweise sein kann, ist, das eine Website mangelhaft tastaturbedienbar ist. Jetzt sagen Sie vielleicht: „Naja, ich habe doch eine Maus. Ich kann ja die verwenden!“ Aber sie müssen wissen, dass viele so genannte „assistive Technologien“ — also, eine assistive Technologie ist etwas, das mir dabei hilft, eine Website zu konsumieren, wenn ich vielleicht mit Einschränkungen zu tun habe — dass viele dieser assistiven Technologien letzten Endes eine Tastatur simulieren und deswegen darauf angewiesen sind, dass digitale Produkte gut tastaturbedienbar sind. Wie schlecht das im Internet da draußen der Fall ist, das merken Sie ganz schnell, wenn sie mal ihre Maus beiseite legen oder abstöpseln und versuchen, eine x-beliebige Website per Tastatur zu bedienen. Sie werden sehr schnell an Grenzen stoßen, und das gibt auch sehr gut den momentanen Zustand dieser digitalen Landschaft draußen wieder, und das ist ein sehr trauriges Bild.
Diese technisch-funktionalen Barrieren kann man aber auch in abstrakte Bereiche weiterdenken, nämlich zum Beispiel große Datenmengen, die übertragen werden, die sinnlos übertragen werden, können auch eine Barriere darstellen. Immer noch sind wir in Deutschland leider an einer Stelle, an der Internet noch relativ viel kostet. So können … das meint man gar nicht, aber in anderen Ländern, auch in europäischen Ländern, ist Internet teilweise noch viel billiger, und Internet kann deswegen beispielsweise auch zu einer finanziellen Barriere werden. Und theoretisch muss man sowas auch in diese Bereiche reindenken und kann dahingehend optimieren.
Die dritte Kategorie von Barrieren, die ich sehe, sind so genannte „redaktionelle oder inhaltliche Barrieren“. Das ist jetzt vielleicht ein Bereich, der auch gerade für die Kulturinstitutionen interessant ist. Solche Barrieren entstehen in der Regel durch unzureichende oder gar nicht vorhandene, entsprechende Aufbereitung. Was kann das bedeuten? Beispielsweise ist sprachliche Komplexität mitunter eine ganz wichtige Barriere, der man entgegenwirken soll. Also wenn man zu kompliziert formuliert — schwierige Sätze, viele Fremdworte, so etwas kann eine große Barriere für das Verständnis darstellen. Oder ein sehr beliebtes Beispiel auch: Das Fehlen von alternativen Aufbereitungen. Es kann sein, dass ich das noch öfter erwähnen werde. Alternative Aufbereitung bedeutet: Ich hatte ja vorher schon über die Sinnesbehinderungen gesprochen. Jemand, der etwas nicht sehen kann oder etwas nicht hören kann, ist darauf angewiesen, es mit anderen Sinnen wahrnehmen zu können. Und das bedeutet, ich muss eigentlich alle Informationen, die ich vorhalte, auf unterschiedlichen Wegen transportieren können. Also Dinge, die ich sehen kann — oder vielleicht eben nicht sehen kann —, die muss ich dann wenigstens hören können. Oder ich muss sie taktil als Brailleschrift lesen können, zum Beispiel. Das heißt, ich brauche immer alternative Aufbereitungen, ob das jetzt für Bilder, für Videos, für Audiomaterial und für alles mögliche ist. Das sind redaktionelle und inhaltliche Barrieren.
Und die letzte Kategorie von Barriere, die ich persönlich fast für die wichtigste halte, ist das, was ich „organisatorische Barrieren“ nenne. Die entstehen durch fehlende oder falsch getroffene Entscheidungen. Das heißt, eigentlich eher auf der organisatorischen Ebene. Eine barrierefreie Lösung, die gar nicht erst in Betracht gezogen wird, kommt nie zustande, und da helfen dann alle anderen Maßnahmen auch nichts. Das heißt, die schwierigste Barriere wahrscheinlich allgemein in der ganzen Landschaft da draußen ist immer noch das fehlende Bewusstsein über dieses Thema Barrierefreiheit. Und wo kein Bewusstsein da ist, ist natürlich auch kein Handlungswillen da. Das heißt, das ist eine ganz wichtige Stelle, an der angesetzt werden muss, um Barrieren zu beheben.
Da gehört dann auch mit rein, das in vielen Situationen anschließend auch die technischen Fertigkeiten nicht vorhanden sind oder überhaupt das Verständnis dafür wie man jetzt an so ein Thema herangeht. Und zu guter Letzt ganz wichtig auch — und das ist eines der Dinge, gegen die wir Expertinnen und Experten ständig ankämpfen müssen — ist, dass es viele Vorurteile gibt. Beispielsweise, dass barrierefreie Lösungen in der Regel hässlich, funktionseingeschränkt und unglaublich teuer sind. Was natürlich alles Quatsch ist. Ich belege das gerne, dass es da tolle Lösung gibt. Also, barrierefreie Lösungen müssen nicht so sein.
Das waren jetzt die … jetzt habe ich mal ein Bild gezeichnet, was Barrierefreiheit eigentlich bedeutet, was Barrieren bedeuten und wer davon betroffen sein kann. Das ist meine persönliche Definition von digitaler Barrierefreiheit.
KATHRIN B. ZIMMER: Das ist ein unglaublich großes Feld, was sie aufgemacht haben. Kann ich das jetzt umsetzen quasi, als Kulturinstitution, wann ich möchte oder gibt es da auch Fristen, in denen ich das machen muss? Wenn Sie jetzt gerade auch den Handlungswillen sozusagen thematisiert haben.
JOSCHI KUPHAL: Das ist eine spannende Frage. Ich gehe jetzt erst mal grundsätzlich davon aus, dass wir hier an der Stelle von öffentlich getragenen Kulturinstitutionen sprechen. Wir haben in Deutschland eine Situation, die im Augenblick zunächst einmal nur öffentliche Stellen dazu verpflichtet, im Bereich Barrierefreiheit aktiv zu werden. Es gibt tatsächlich Fristen. Die meisten davon, oder einige davon, sind schon abgelaufen. Ich will da gar keine Panik verbreiten. Ich werde gleich nennen, was das so war. Bevor ich das mache, möchte ich aber ganz kurz die rechtlichen Grundlagen hier schildern. Also: Was ist es eigentlich, was uns dazu verpflichtet, oder wie verpflichtet sind wir eigentlich, barrierefrei zu sein?
Ich muss da ein kleines bisschen ausholen. Wir haben international ein großes Rahmenwerk, das beschreibt, was man als barrierefrei bezeichnen kann — oder was zumindest eine Mindestanforderung an Barrierefreiheit beschreibt. Das sind die so genannten „Web Content Accessibility Guidelines“, WCAG abgekürzt. Das ist so das internationale Rahmenwerk, eine Empfehlung, die dann aufgegriffen wird von der EU und in eine europäische Richtlinie übersetzt wurde, mit dem wunderschönen Namen 2016/2102. Die gilt seit 2016 und beschreibt dann im Schulterschluss mit einer EU-Norm, der EN 301 549, was eigentlich barrierefrei bedeutet und was eine Webseite oder ein digitales Dokument — weil wir reden hier nicht nur über Websites, das muss ich auch immer wieder betonen, wir sprechen auch über digitale Apps beispielsweise, oder über digitale Dokumente, PDFs, die ich auf einer Website zum Download anbiete zum Beispiel — diese EU-Norm beschreibt also, was wir hier in unserem Rechtsraum als barrierefrei betrachten überhaupt.
Diese EU-Norm wird dann nochmal in ein deutsches Recht übersetzt, und das ist das was, für uns eigentlich maßgeblich ist: Nämlich die Barrierefreie Informationstechnik Verordnung, BITV abgekürzt. Die ist im Grunde ein alter Hut, die gibt es seit 2002. Sie hat aber bis vor wenigen jahren in erster Linie mal nur die Bundesebene betroffen. Seit 2018 ist die BITV runtergerutscht auf die Länder und auf die kommunale Ebene. Und jetzt seit dieser Zeit sind beispielsweise auch Kommunen, Schulen, Krankenhäuser, Universitäten, Bibliotheken, die öffentlich getragen sind, verpflichtet, barrierefreie digitale Angebote vorzuhalten. Das heißt, das geht in den Bereich Website, App und digitale Dokumente hinein. 2018 ist die BITV novelliert worden: Sie heißt nach wie vor … hat sie eine Versionsnummer, nämlich die Versionsnummer 2.0. Die hat sich nicht geändert, aber der Inhalt hat sich maßgeblich geändert. Und seit dieser Zeit, wie gesagt, ist es auf Länderebene verpflichtend, barrierefreie Angebote vorzuhalten.
Der Gesetzgeber hat an der Stelle mehrere Fristen gestaffelt gesetzt. Das Ganze ist übrigens im Windschatten der Datenschutzgrundverordnung passiert, nur wenige Monate später. Der Vorgang war sehr vergleichbar, und genauso wie bei der Datenschutzgrundverordnung wurden diese Fristen — sagen wir mal — sehr entspannt interpretiert. Natürlich gab es dann einen großen Aufschrei, als die ersten Fristen verstrichen sind, weil man hat ja angeblich nichts davon gewusst. Dabei war das alles schon seit Jahren angebahnt. Die Fristen sahen so aus, dass seit dem 23. September 2019 die öffentlichen Stellen verpflichtet waren (und sind), ab dann alles, was neu an digitalen Angeboten gestaltet und konzipiert wird, barrierefrei sein muss.
Eine etwas längere Schonfrist hatten ältere Angebote. Die älteren Angebote — also alles, was vor 2018 oder bis 2018 entstanden ist —, musste dann bis zum 23. September letzten Jahres umgerüstet und barrierefrei gemacht worden sein. Das heißt, eigentlich müsste theoretisch jetzt inzwischen alles, was öffentlich getragen ist, barrierefrei sein. Es gibt ein paar kleine Einschränkungen — das klingt sehr dramatisch: Beispielsweise Dinge, die schon sehr sehr alt sind und in der Vergangenheit liegen, die kein Mensch mehr braucht, um es mal einfach auszudrücken, die müssen nicht nachgerüstet werden. Aber alles, was aktiv am Geschäftsverkehr beteiligt ist, muss jetzt barrierefrei sein. Es gibt noch eine allerletzte Frist, die wird jetzt im Juni, am 23. Juni verstreichen. Dann müssen auch mobile Anwendungen barrierefrei sein, und damit ist eigentlich die rechtliche Lage komplett ausgerollt auf alle Bereiche im kommunalen und Länderbereich und dann muss alles barrierefrei sein.
Das klingt sehr dramatisch. Es gibt — ich will jetzt nicht sagen „ein kleines Schlupfloch“, aber im Augenblick ist die Situation so, dass man eine sogenannte Barrierefreiheitserklärung braucht, und in der muss man darstellen, wie barrierefrei die digitalen Angebote bereits sind, und wo sie es vielleicht noch nicht sind. Es ist ein bisschen ein Offenbarungseid, den man da leisten muss. Das tut natürlich weh, wenn man sowas veröffentlichen muss. Das heißt, da will der Gesetzgeber auch durchaus den Finger in die Wunde legen und sagen: „Du musst da bitteschön dranbleiben und dafür sorgen, dass bald Abhilfe geschaffen werden soll!“.
Und gleich noch als kleine Perspektive: Es kommt etwas ganz Neues (oder ist schon da), nämlich wurde letztes Jahr oder vorletztes Jahr eine neue EU-Richtlinie verabschiedet, die hat auch so einen wunderschönen Namen, aber sie ist gemeinhin bekannt als der „European Accessibility Act“, was quasi eine ganz neue Regelung ist. Die wird jetzt auch im Lauf der nächsten Jahre in mehreren Stufen in nationales Recht umgesetzt, gilt dann allerspätestens ab 2025 in bestimmten Branchen. Beispielsweise Banken müssen dann sehr weitreichend barrierefrei sein. Mit anderen Worten: Dieses Thema rutscht auch immer weiter in die Privatwirtschaft hinein, also raus aus diesem rein öffentlichen Bereich. Deutschland ist überraschenderweise, soweit ich das jetzt gerade weiß, das erste Land in der EU, das tatsächlich schon in diesem Juli ein nationales Recht dazu implementieren möchte — und es wäre das erste Mal, dass Deutschland die Nase vorn hat bei solchen Dingen. Aber es schaut gerade ganz gut aus. Das sind so die Fristen die im Augenblick ablaufen und eingehalten werden müssen und die auch für Kulturinstitutionen, die öffentlich getragen sind, gelten.
KATHRIN B. ZIMMER: Sie haben ja vorhin schon ein paar analoge Barrieren, sagen wir mal, genannt, wie zu kleine Türen oder zu hohe steile Treppen oder ähnliches, und auf der anderen Seite dann die digitalen Barrieren. Gibt es auch Möglichkeiten, dass sich analoge und digitale Barrierefreiheit zu sagen gewinnbringend ergänzen?
JOSCHI KUPHAL: Ich habe Schwierigkeiten, auf dieses Wort gewinnbringend an der Stelle abzuzielen. Ich finde persönlich, natürlich ist jede einzelne Barriere, die es nicht gibt, schon ein großer Gewinn. Aber jetzt vielleicht … ich habe versucht, mich in die Fragestellung hineinzudenken. Erstmal ist es, glaube ich, so, dass wir jetzt seit einem Jahr Corona sehr deutlich gelernt haben, dass sich Angebote gleich welcher Art zunehmend in den digitalen Bereich hinein verlagern müssen. Das gilt natürlich auch für Kulturinstitutionen. Und ich glaube, das wird auch in Zukunft weiter so sein und immer stärker so werden. Das ist natürlich eine große Chance, sich auch neues Publikum zu erschließen, weil die bauliche Welt oder die Situation, die wir haben, die schließt immer irgendjemanden aus. Und überhaupt das Einführen von digitalen Alternativen zu solchen realen Angeboten, allein das macht schon mal irgendwie die Türen auf und lädt ganz neues Publikum an der Stelle ein.
Ansonsten, ich weiß jetzt nicht, ich hab ja wenig Plädoyer, wo da eine gewinnbringende Situation entsteht. Ich kann nur sagen, dass es sicherlich Sinn macht, sich in Fragen der Gestaltung, wenn man die Wahl hat, grundsätzlich immer zugunsten der größeren Zugänglichkeit zu entscheiden, weil man sich damit einfach neue Kreise an Publikum aufmacht.
KATHRIN B. ZIMMER: Und abschließend vielleicht noch — und auch so im Hinblick auf unsere Veranstaltung — was wären aus ihrer Sicht vielleicht fünf Kernfragen, die sich eine Kulturinstitution stellen sollte, wenn sie den Anspruch hat, digitale Barrierefreiheit im Haus wirklich umfassend zu denken und dann auch umzusetzen. Wo kann man denn da anfangen bei diesem weiten Feld?
JOSCHI KUPHAL: Also, ich sage oft gerne, das Ganze muss mit einem „Mindshift“ anfangen. Das heißt also, mit einer gedanklichen Veränderung. Was den Begriff Barrierefreiheit angeht: Das Allererste, was ich ganz wichtig finde zu betonen, ist es, dass wir alle beginnen müssen, Barrierefreiheit als ein Qualitätskriterium zu begreifen, und zwar ein unverhandelbares Qualitätskriterium, und nicht etwa als eine Aktion, die wir gerne noch oben drauflegen auf etwas, das wir tun, nur weil wir noch genug Zeit oder Budget haben oder irgendjemandem einen Gefallen tun wollen. Sondern wir müssen begreifen, dass Barrierefreiheit ein ganz zentrales Qualitätsmerkmal ist, und wenn wir das nicht implementieren, dann machen wir eigentlich unseren Job nicht richtig. Das ist meine persönliche Perspektive darauf.
Das heißt, die erste Frage, die sich eine Kulturinstitution (wie auch jeder andere) stellen muss, ist: „Habe ich Barrierefreiheit wirklich so verinnerlicht, dass ich das als zentralen Bestandteil begriffen habe und denke ich das ganze Thema von Anfang an mit, bei allem, was ich mir ersinne?“
Das Zweite ist, dass es wichtig ist, auch gerade im Aufbau von Angeboten — ob das eine Webseite ist oder eine Ausstellung oder … man kann sich das in jedem Bereich wahrscheinlich vorstellen: „Sind alle Beteiligten, die an diesem Prozess mitmachen, wirklich auch entsprechend sensibilisiert und müssen sie möglicherweise ertüchtigt werden?“ Ich sage jetzt mal, ein Redakteur zum Beispiel sollte lernen, wie man einfache Texte schreibt oder wie man Bilder beschreibt, so dass man nicht erst hinterher auf die Idee kommt „Ach, das wäre doch schön gewesen, wenn ich diese Information auch jemandem zur Verfügung stelle, der sie nicht gleich wahrnehmen kann“. Das heißt, die zweite Fragestellung ist: „Sind wirklich alle Beteiligten ausreichend sensibilisiert und was muss ich vielleicht auch langfristig tun, um sie immer wieder oder überhaupt erst mal so zu ertüchtigen, dass sie dieses Thema behandeln können?“
Dritter Punkt, den ich empfehlen würde, ist, sich immer wieder die Frage zu stellen: „Tue ich mein Thema so einfach und verständlich rüberbringen, wie es überhaupt nur möglich ist, oder bin ich vielleicht aus Versehen komplizierter, als es sein muss?“ Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass es ganz wichtig ist, dass wir keine Zwei- oder Mehrklassengesellschaft aufbauen an der Stelle. Wir wollen nicht den Behinderteneingang im Hinterhof haben, genau so wollen wir auf der Website nicht zwei Versionen haben für jemanden, der komplexe Texte verstehen kann und jemanden, der sind nicht verstehen kann. Sondern das Beste wäre eigentlich immer, wenn wir ein gleichwertiges Erlebnis für alle bieten können, von dem alle etwas haben. Also, vermittle ich mein Thema so einfach, wie es nur irgendwie geht?
Der vierte Punkt hängt ein bisschen damit zusammen, nämlich in der Konzeption oder in der Planung von solchen Angeboten ist es immer interessant, sich selbst zu fragen, ob ich vielleicht von Annahmen ausgehe oder ob ich Annahmen treffe über mein Publikum, die vielleicht am Ende gar nicht zutreffen. Vielleicht Annahmen über die Fertigkeiten oder wie die Ausstattung meines Publikums, oder nehme ich mich wirklich immer wieder zurück und erinnere mich daran, dass ich vielleicht nicht … dass ich quasi über meinen eigenen Tellerrand hinaus denken und planen soll. Und einfach immer wieder sich selbst hinterfragen und das, was man tut, auch hinterfragen.
Zu guter Letzt, fünfter und auch extrem wichtiger Punkt: Das Allerbeste ist, wenn man Menschen, die von Barrieren betroffen sind, auch tatsächlich in die Gedanken und in die Ideenfindung und in den Aufbau von Angeboten mit einzubeziehen und sich da auch immer wieder das Feedback zu holen und gerade mit Menschen zu sprechen, die von Barrieren betroffen sind und nicht glauben, man kann das alles an der langen Hand kontrollieren und organisieren, — glaube ich, total wichtig — sich da auch regelmäßig das Feedback zu holen.
Das wären jetzt so die die fünf zentralen Anregungen, die ich da gerne mit auf den Weg geben würde. Die sind jetzt alle nicht unbedingt speziell auf Kulturinstitutionen abgestellt, aber könnten auch da ihren Wert haben.
KATHRIN B. ZIMMER: Vielen Dank, Herr Kuphal, für diesen doch schon recht umfassenden Einblick in ein großes, großes Thema. Und damit wünsche ich Ihnen und den Kulturinstitutionen am 5.5. spannende Gespräche und hoffe, dass Sie einige Barrieren einreißen können. Vielen Dank!
JOSCHI KUPHAL: Dankeschön!
Barrierefreiheit auf einen Blick
Besonders beeindruckend finden wir die umfassende Illustration, die Michael Schrenk im Auftrag des Staatsministeriums aus der Aufzeichnung des Interviews gefertigt und damit das Einführungsvideo hinterlegt und produziert hat. Anschaulicher hätten die Zusammenhänge nicht wiedergegeben werden können. Auch bei ihm bedanken wir uns herzlich für die Möglichkeit, seine Arbeit hier wiedergeben zu dürfen!